In den beiden aufeinanderfolgenden Wochenabschnitten Wajischlach und Wajeschew verwendet die Tora denselben Begriff: »Isch« – »Mensch«. Doch es verbirgt sich ein ganz unterschiedliches Konzept dahinter.
In Wajischlach lesen wir von Jakow, der alleingelassen worden war, und ein Mann rang mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. Der mittelalterliche Kommentator Raschi erklärt, dass dieser »Mann« der geistige Engel Esaws war. Jakows Ringen mitten in der Nacht mit dem mysteriösen »Mann« war also Teil des andauernden Kampfes zwischen ihm und seinem Bruder Esaw.
reise In Paraschat Wajeschew wird genau derselbe Begriff »Isch« verwendet, doch beschreibt er hier eine ganz andere Art »Mann«. Die Tora schreibt, dass Josef von seinem Vater Jakow ausgesandt wurde, um seine Brüder zu besuchen. Obwohl sie ihn verabscheuten, machte sich Josef auf die Reise – und verirrte sich.
Die Tora berichtet: Da fand ihn ein Mann, und siehe, er irrte auf dem Feld umher, und der Mann fragte ihn: »Was suchst du?« Und er sagte: »Ich suche meine Brüder. Sag mir, wo sind sie auf der Weide?«
Wer war dieser geheimnisvolle Mann, »Isch«, der Josef in diesem verletzlichen Moment begegnete? Raschi sagt, es war der Engel Gabriel, der, wie wir sehen, an anderer Stelle im Tanach als Isch definiert wird.
In beiden Geschichten gibt es eine verletzliche Person. In Wajischlach »bleibt Jakow mitten in der Nacht allein«, er ist seit 34 Jahren von zu Hause weg. In Wajeschew ist Josef, ein 17-jähriger Junge, ebenfalls verletzlich und verloren. In beiden Geschichten treffen zwei zutiefst verletzbare Menschen, Jakow und Josef, Vater und Sohn, jeweils auf einen Fremden – einen Mann, der aus heiterem Himmel auftaucht.
UNTERSCHIED Doch der große Unterschied ist, was dieser Mann tut. In dem einen Fall sieht der Isch einen einsamen Mann mitten in der Nacht, Jakow, und stürzt sich auf ihn. In der zweiten Geschichte geht es ebenfalls um einen Mann, der allein ist, Josef. Und ein Mann begegnet ihm. Aber was sagt und tut der Isch? Er stürzt sich nicht auf Josef, nutzt nicht dessen Moment der Schwäche aus für seine eigenen Ziele, sondern er sieht darin eine Gelegenheit zu helfen. Er fragt den jungen Mann: Wonach suchst du? Du bist ein Träumer. Ich sehe, dass du auf der Suche nach etwas bist. Wie kann ich dir helfen? Wonach suchst du?
Und Josef sagt es ihm: »Ich bin auf der Suche nach meinen Brüdern!« Ich will eine Beziehung. Ich bin auf der Suche nach Liebe. Nach Zugehörigkeit. Nach Verständnis. Nach Kameradschaft. Nach Einigkeit.
Wenn ein Mann, der einer verletzlichen Person begegnet, die Gelegenheit ergreift, sie anzugreifen, dann ist dieser Mann, sagt Raschi, ein Winkel von Esaw. Aber wenn ein Mann, der einer verletzlichen Person begegnet, die Gelegenheit ergreift, eine liebende Hand, ein führendes Herz anzubieten, dann muss es, so Raschi, der Engel Gabriel sein.
verletzlichkeit Wir alle begegnen jeden Monat, jede Woche, jeden Tag Menschen – Kinder, Jugendliche, Erwachsene –, die allein sind, verletzlich, einsam, verloren, verwirrt. Wir sehen sie in ihrer Verletzlichkeit. Und wir treffen eine Entscheidung. Einige von uns ergreifen die Gelegenheit, sie zu unserem Vorteil zu nutzen. Manche Menschen nutzen sogar die Gelegenheit, sie auf unmoralische Weise zu missbrauchen, sich auf sie zu stürzen, sie anzugreifen, sie zu verletzen, gewollt oder ungewollt.
Aber einige von uns begegnen denselben verletzlichen Menschen auf ganz andere Weise: Mein Freund, mein lieber Mensch, wonach suchst du? Lass mich herausfinden, was du suchst, was du brauchst, wonach du dich sehnst, was deine tiefsten Ängste und Befürchtungen sind?
Raschi sagt, dass jeder von uns die Wahl treffen muss, welche Art »Mensch« er sein will. Ich kann Esaw werden, oder ich kann der Engel Gabriel werden.
ELIJA Ein Schüler des Baal Schem Tow, des Gründers des Chassidismus, war fasziniert von der Figur des Propheten Elija, der in unserer Tradition nie gestorben ist, sondern auf einem feurigen Wagen in den Himmel fuhr und eines Tages auf die Erde zurückkehren wird, um die Ankunft des Maschiach zu verkünden.
Dieser Schüler flehte den Baal Schem an, ihn Elija sehen zu lassen. Er bot ihm seinen ganzen Reichtum an, aber der Baal Schem wies ihn ab. Ein paar Tage vor Pessach kam der Baal Schem Tow zu dem Mann und sagte ihm, dass er ihm Elija zeigen würde – unter einer Bedingung. Er würde ihm den Propheten Elija zeigen, aber nur, wenn er die Anweisungen ausführen würde, die er ihm geben würde.
Der Mann war sofort einverstanden, denn er wollte Elija unbedingt sehen.
Der Baal Schem Tow sagte ihm, er solle einen Karren nehmen und ihn mit Vorräten für das Pessachfest füllen. Er solle genug Essen und Wein für viele Menschen hineinpacken.
wald Am Tag vor Pessach sagte der Baal Schem Tow dem reichen Mann, er solle einer bestimmten Straße folgen, bis er zu einem kleinen Haus im Wald komme. Der reiche Mann ritt viele Stunden lang in den dunklen Wald, bis er schließlich zu einem kleinen Haus kam. In dem Haus lebte eine arme Familie, die ihre letzten Pessach-Vorbereitungen mit mageren Rationen traf. Der Mann verkleidete sich, wie es ihm der Baal Schem aufgetragen hatte, und fragte, ob er Pessach mit der Familie verbringen dürfe, und bot ihnen an, seine Wagenladung mit Vorräten mit ihnen zu teilen.
Sie freuten sich, ihn in ihr Haus zu lassen, und sie freuten sich über all die Speisen, die er mitbrachte und die ihren Seder so sehr bereicherten. Und der reiche Mann wartete, einen Tag, zwei Tage, drei Tage, vier Tage, er wartete die ganze Woche des Pessachfestes – aber, anders als der Baal Schem versprochen hatte, erschien Elia nicht.
Als Pessach zu Ende war, machte sich der reiche Mann auf den Heimweg. Als er zurückkam, suchte er den Baal Schem Tow auf und erzählte ihm, wie enttäuscht und verärgert er war. »Du hast mich betrogen!«, sagte er. »Ich bin den ganzen Weg hierher geschlittert und habe das ganze Pessachfest mit diesen armen Fremden verbracht. Und jetzt bin ich den ganzen Weg zurück nach Hause gekommen. Sag mir bitte, warum habe ich Elija nicht gesehen?«
jubel Der Baal Schem Tow sagte: »Geh noch einmal zu dem kleinen Haus, und diesmal schleich dich leise an und lausch am Fenster.« Als er sich dem Haus näherte, hörte der reiche Mann von drinnen Gesang und Jubel. Die Kinder lachten, und die Eltern sangen. Sie sprachen über das wunderbare Pessachfest, das sie gefeiert hatten, das schönste Pessachfest, das sie je erlebt hatten.
»Wer war wohl der geheimnisvolle Mann, der uns so viel zu essen brachte?«, fragte sich der Vater. »Was meinst du?«, sagte die Mutter. »Erkennst du Elija nicht, wenn du ihn siehst?«
Und als er diese Worte hörte, verstand der reiche Mann, wo Elija war. Er verstand, dass wir alle Elija sein können, ja, dass wir alle verkleidete Engel sein können, wenn wir es nur wollen.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.
inhalt
Der Wochenabschnitt Wajischlach erzählt davon, wie Jakow sich aufmacht, seinen Bruder Esaw zu treffen. In der Nacht kämpft er am Jabbok mit einem Mann. Dieser ändert Jakows Namen in Jisra-El (»G’ttes Streiter«). Jakow und Esaw treffen zusammen und gehen anschließend wieder getrennte Wege. Später stirbt Rachel nach der schweren Geburt Benjamins und wird in Efrat beigesetzt. Als auch Jizchak stirbt, begraben ihn seine Söhne Jakow und Esaw in Hebron.
1. Buch Mose 32,3 – 36,43