Pessach

Endlich frei

Sederteller, vier Gläser Wein: Pessach kann kommen. Foto: Marco Limberg

Zu jeder Zeit, in jedem Geschlecht solle sich der Einzelne betrachten, als wäre er selbst aus der Sklaverei Ägyptens gezogen ...» So steht es in der Haggada, dem «Drehbuch» der Pessachabende.

In diesem Sinne kann man das Pessachfest als die Geburtsstunde des jüdischen Volkes betrachten: Es ist eine immerwährende Erinnerung an die g’ttliche Heilstat, durch die aus einer Sklavenschar nach ihrer Befreiung ein Volk geworden ist. Mit keinem anderen Fest unseres Volkes ist die Verpflichtung zur Erinnerung an den Verlauf der Geschichte intensiver verbunden.

Diese Erinnerung wird vertieft mit Elementen und Motiven, die für Jung und Alt nachvollziehbar und verständlich sind. Außerdem wird sie durch unterschiedliche Gedankenstützen und Handlungen gestärkt. Den Höhepunkt des Festes bilden die Festmahlzeiten, die nach einem streng geregelten Ablauf an den zwei ersten Abenden stattfinden. Für die Abende des Seders (hebräisch für Ordnung) wird der Tisch besonders fein gedeckt.

sederteller Auf dem Tisch steht der Sederteller mit den symbolischen Speisen: Ein hart gekochtes Ei erinnert an die Zerstörung des Tempels und an die Vergänglichkeit menschlichen Handelns. Ein gerösteter Knochen erinnert an das einstige Pessach-Opfer im Tempel zu Jerusalem. Charosset, ein Gemisch aus Äpfeln, Nüssen, Zimt und Wein, symbolisiert den Lehm, den die israelitischen Sklaven beim Pyramidenbau verwendeten.

Das Bitterkraut (Maror – Meerrettich) ist Zeichen für die Bitternis der Knechtschaft. Karpas (Erdfrüchte – Petersilie und Radieschen) erinnert uns an die kargen Mahlzeiten der Knechte, und Salzwasser steht für die vergossenen Tränen der israelitischen Sklaven.

Im Laufe des Abends werden die Erdfrüchte in dieses Salzwasser getaucht und verspeist. Auch das eigentliche Festmahl beginnt mit einem hart gekochten Ei, das in Salzwasser getaucht wird. Dieses wiederum erinnert uns an die Gebräuche der freien Bürger Roms, die ihre Mahlzeiten mit einem Ei begannen. Auch wir wollen damit zum Ausdruck bringen, freie Bürger zu sein.

Am ersten und zweiten Abend wird die festliche Tischgemeinschaft aufgefordert, an verschiedenen Stellen der Mahlzeit und der Erzählung aus der Haggada insgesamt vier Gläser Wein zu trinken. Diese vier Gläser Wein stehen nach rabbinischer exegetischer Anordnung der späteren Zeit für die vier Ausdrücke der Befreiung und Erlösung aus der Knechtschaft. Im 2. Buch Mose lesen wir: «Ich (…) will euch aus den Lasten Ägyptens herausführen und will euch von ihrer Knechtschaft erretten und will euch durch einen ausgestreckten Arm und große Gerichte erlösen. Und Ich will euch Mir zum Volk annehmen und will euer G’tt sein» (6, 6–7).

Erlösung Diese Toraverse tragen dazu bei, dass wir Juden die einstige Befreiung im Altertum auch mit zukünftigen messianischen Hoffnungen und unserer Erlösung verknüpfen. An den ersten beiden Pessachabenden fallen nicht nur das Erzählen und das Erinnern ins Gewicht. All die Speisen, die die Tischgemeinschaft vor, während oder sogar nach dem Abendmahl zu sich nimmt, stehen im Dienste der Erinnerung. Die Mazzen prägen das gesamte Fest: «Chag Hamazzot» ist das Fest der ungesäuerten Brote.

In der Haggada sind mehrere didaktische Mittel eingefügt, um die Wachsamkeit und Stimmung der Kinder und Jugendlichen anzuregen. Denn sie spielen die wichtigste Rolle am Festtisch. Sie sollen ermutigt werden, Fragen zum Fest und zur Geschichte unseres Volkes zu stellen.

Ursprünglich waren es vier Fragen zu den Themen des Abends, die zu Beginn der Zeremonie von den Jüngsten an uns gerichtet worden sind. Und so lautete die erste Frage: «Worin unterscheidet sich dieser Abend von allen anderen des Jahres? An allen Abenden essen wir Brot, heute aber nur Mazze...?» Wir Erwachsene sind angehalten, alle diese Fragen zu beantworten und ausführlich zu erläutern.

sklaven Die Zeremonien des Festes heben insbesondere drei Momente der Heilsgeschichte hervor. Die zehnte Plage mit dem Tod der Erstgeborenen der Unterdrücker und Sklavenhalter zwang letztendlich den starrsinnigen Pharao, die Sklaven endlich in die Freiheit zu entlassen. Der Tod – volkstümlich wird über den «Todesengel» gesprochen – «übersprang» die Häuser der Sklaven. Daher der hebräische Name «Pessach» – für «Überspringen».

Die Erinnerung an diese Handlung G’ttes beherrscht die Festzeremonien, jedoch dürfen wir keine Genugtuung dabei empfinden. Als Zeichen unseres Mitgefühls wollen wir das zweite Glas Wein nicht völlig leeren. Die Bitterkeit über den Tod der anderen darf nicht verdrängt werden.

Ebenso wird der hastige Auszug aus Ägypten während der Zeremonie hervorgehoben. Nach der erlittenen zehnten Plage drohte der Aufstand in Ägypten. Die Höflinge drängten den Pharao, die Israeliten endlich ziehen zu lassen, bevor das Land zugrunde gehen würde. Daraufhin trieb der Pharao die Israeliten in die Wüste. Und schließlich behandelt die Schriftlektüre aus der Tora – wie auch die wichtigsten Teile der Liturgie am siebenten und am achten und letzten Tag des Festes – die Errettung unserer Ahnen am Schilfmeer.

Tyrannen Dieses Ereignis lehrt bis heute, wie rasch bereits bezwungen geglaubte Tyrannen in der Lage sind, ihre gestrigen Sklaven aufs Neue knechten zu wollen. Mit einem riesigen Heer verfolgte der Pharao die Israeliten. Die Tora berichtet: «Ross und Reiter versanken jedoch in den Fluten des Schilfmeers.» (2. Buch Mose 15,1)

Diese drei Elemente sind bei vielen von uns, bei den späteren Nachfahren – bei den von braunen und roten Diktaturen Befreiten – fest verbunden, und sie bilden für uns das bisher großartigste Erlebnis des Judeseins. Auch daher lebte und lebt das Pessachfest stets im Volksbewusstsein aller Juden weiter.

Der Autor war von 1981 bis 2002 Landesrabbiner von Württemberg.

Bereschit

Die Freiheit der Schöpfung

G’tt hat für uns die Welt erschaffen. Wir haben dadurch die Möglichkeit, sie zu verbessern

von Rabbiner Avichai Apel  17.10.2025

Talmudisches

Von Schuppen und Flossen

Was unsere Weisen über koschere Fische lehren

von Detlef David Kauschke  17.10.2025

Bracha

Ein Spruch für den König

Als der niederländische Monarch kürzlich die Amsterdamer Synagoge besuchte, musste sich unser Autor entscheiden: Sollte er als Rabbiner den uralten Segen auf einen Herrscher sprechen – oder nicht?

von Rabbiner Raphael Evers  17.10.2025

Mussar-Bewegung

Selbstdisziplin aus Litauen

Ein neues Buch veranschaulicht, wie die Lehren von Rabbiner Israel Salanter die Schoa überlebten

von Yizhak Ahren  17.10.2025

Michael Fichmann

Essay

Halt in einer haltlosen Zeit

Wenn die Welt wankt und alte Sicherheiten zerbrechen, sind es unsere Geschichte, unsere Gebete und unsere Gemeinschaft, die uns Halt geben

von Michael Fichmann  16.10.2025

Sukka

Gleich gʼttlich, gleich würdig

Warum nach dem Talmud Frauen in der Laubhütte sitzen und Segen sprechen dürfen, es aber nicht müssen

von Yizhak Ahren  06.10.2025

Chol Hamo’ed Sukkot

Dankbarkeit ohne Illusionen

Wir wissen, dass nichts von Dauer ist. Genau darin liegt die Kraft, alles zu feiern

von Rabbiner Joel Berger  06.10.2025

Tradition

Geborgen unter den Sternen

Mit dem Bau einer Sukka machen wir uns als Juden sichtbar. Umso wichtiger ist es, dass wir unseren Nachbarn erklären können, was uns die Laubhütte bedeutet

von Chajm Guski  06.10.2025

Sukkot

Fest des Vertrauens

Die Geschichte des Laubhüttenfestes zeigt, dass wir auf unserem ungewissen Weg Zuversicht brauchen

von Rabbinerin Yael Deusel  06.10.2025