Erscheint ein Essay 100 Jahre nach der ersten Veröffentlichung noch einmal im Druck, dann könnte man annehmen, dass die Herausgeber den alten Text erneut ins Gespräch bringen wollen. Doch die Wiederveröffentlichung des Aufsatzes »Halacha und Aggada« von Chaim Nachman Bialik (1873–1934) ist der Tatsache geschuldet, dass seinerzeit Scholem, der später als Kabbala-Forscher berühmt wurde, Bialiks Ausführungen übersetzt hat. Im Jahr 1919 erschien Bialiks Essay in Bubers Zeitschrift Der Jude, jetzt kann man ihn lesen im Sammelband Poetica von Gershom Scholem (Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2019).
Bialik diskutiert zwei im jüdischen Geistesleben außerordentlich wichtige Begriffe: Halacha und Aggada: »Das Antlitz der Halacha – grämlich, das der Aggada, lachend. Jene pedantisch, erschwerend, hart wie Stahl – die Ordnung der Strenge; diese freimütig, erleichternd, weicher als Öl – die Ordnung des Erbarmens.«
Bialik wirft die Frage auf: »Aber darf man hieraus etwa (wie viele meinen) schließen, Halacha und Aggada seien beide einander Feind, seien Gegensätze?« Seine Antwort lautet: »Die so reden, verwechseln Zufälliges mit dem Wesen und die Form mit dem Inhalt. Und wem gleichen sie? Einem, der über Eis und Wasser in einem Strom urteilt, es seien zwei verschiedene Stoffe. So sind auch Halacha und Aggada in Wahrheit zwei Dinge, die eines sind, zwei Gesichter eines Wesens.«
Bild Das Bild macht deutlich, wie der hebräische Dichter und Essayist das Verhältnis zwischen Aggada und Halacha sieht. Ganz konsequent formuliert er: »Die Halacha ist die Kristallisation, das letzte und notwendige Ergebnis der Aggada, die Aggada die wieder flüssig gewordene Halacha.« Dass Bialik an dieser Stelle eine moderne und nicht die traditionelle Ansicht vertritt, kann man leicht erkennen, wenn man sein Konzept mit der Auffassung von Rabbiner Samson Raphael Hirsch vergleicht.
In den Vorbemerkungen zu seinem klassischen Werk Chorew (Oldenburg 1837) bespricht Rabbiner Hirsch das Verhältnis zwischen Halacha und Aggada; er benutzt (wie der Talmud, Baba Kamma 60b) die aramäischen Begriffe »Schemateta« und »Aggadeta«. Auf eine wichtige Unterscheidung macht Rabbiner Hirsch aufmerksam: »Alles dem ersten Kreis Angehörige ist verpflichtend (…). Alles dem zweiten Kreis Angehörige bringt keine Verpflichtung, weil es nur rein Ansicht Einzelner ist (…). Der erste Kreis ist seinen Bestandteilen nach mit Abschluss der Schemateta sammelnden Gemara abgeschlossen; der zweite, der Kreis der Aggada, ist aber frei und für alle Zeiten der Bereicherung fähig.«
Ist von Halacha und Aggada die Rede, denkt man meistens an talmudische Texte. Sie treten jedoch bereits in der Tora in Erscheinung.
Ist von Halacha und Aggada die Rede, denkt man meistens an talmudische Texte. Wie Rabbiner Eli Berkovits in seinem Buch Was ist der Talmud (Frankfurt am Main 1963) jedoch bemerkt, treten beide Formen bereits in der Tora in Erscheinung: »In der Bibel selbst finden wir Halachisches als verpflichtende Norm und gültiges Gesetz und Aggadisches in Form von Erzählungen und Berichten. Was die Halacha und Aggada der Bibel eint, ist die Tora – die Lehre … Aggada und Halacha der Bibel weisen über sich hinaus – auf die Lehre; sie führen zur Lehre.«
Das Wesen der Aggada und ihre Beziehung zur Halacha bestimmt Rabbiner Berkovits wie folgt: »Die Aggada ist die zur Lebensweisheit gewordene Lebenserfahrung der Geschlechter, sie ist die Weisheit der Zeiten. Die Halacha dagegen ist die dem Menschen gegebene Lehre. Die Aggada ist wie ›Lehre von unten‹, sie wird in der Zeit; die Halacha die ›Lehre von oben‹, sie ist in Ewigkeit. Die Halacha normiert das äußere Verhalten, die Aggada schafft innere Bereitschaft.«
Popularität Für ein gedeihliches jüdisch-religiöses Leben brauchen wir beide Arten der Lehre; sie stützen einander. Dass Halacha und Aggada nicht immer gleich populär sind, zeigt uns eine talmudische Erzählung (Sota 40a) über Rabbi Abahu und Rabbbi Chija Bar Abba, die zusammen in irgendeine Ortschaft kamen. Dort trug Abahu Aggada vor, und Chija Bar Abba sprach über Halacha. Alle Welt ging zu Abahu, sein Kollege wurde kaum beachtet. Weil Chija Bar Abba sich grämte, sprach Abahu zu ihm: »Ich will dir ein Gleichnis sagen (...). Wenn von zwei Menschen der eine Edelsteine verkauft und der andere allerlei Nähgeräte, so hat gewiss derjenige mehr Zulauf, der die Nähsachen verkauft.«
Schon immer gab es Meister der Aggada sowie Spezialisten für halachische Fragen. In seinem Buch Talmud für Jedermann (Basel-Zürich 1995) schreibt Rabbiner Adin Steinsaltz: »Zu wahrer und allgemein anerkannter Toragröße stiegen letztendlich nur diejenigen Gelehrten auf, die gleichermaßen in Aggada und Halacha bewandert waren und beide Bereiche als Teile eines großen Ganzen – der Tora – ansahen.« Gemeinderabbiner sind gut beraten, wenn ihre Vorträge in der Synagoge halachisches und aggadisches Material enthalten. Dadurch stärken die Prediger sowohl das Torawissen der Zuhörer als auch ihre Bereitschaft, das Leben nach dem Religionsgesetz auszurichten.