Hoffnung, Enttäuschung, Neuanfang – so stellt sich Gottes Sicht auf den Menschen dar. Bei dessen Erschaffung am sechsten Schöpfungstag hieß es noch: »Siehe, es war sehr gut«, doch nur wenige Generationen später berichtet die Tora:
»Da sah der Ewige, dass groß war die Bosheit der Menschen auf Erden, und dass alles Gebilde der Gedanken seines Herzens nur böse den ganzen Tag. Und es gereute den Ewigen, dass er gemacht den Menschen auf Erden (…). Und der Ewige sprach: Ich will tilgen den Menschen, den ich geschaffen, hinweg von der Fläche des Erdbodens« (1. Buch Mose 6, 5–7).
Verkommenheit und Gewalt bestimmen die Verhältnisse auf Erden – und so ertränkt die Sintflut (nahezu) alles Leben.
Bund Die Menschheit soll noch einmal ganz neu anfangen, diesmal mit Noach als zweitem Adam. Nach dem Ende der Flut werden Noach und seine Familie zum Ursprung der künftigen Menschengeschlechter, und Gott schließt einen Bund mit ihnen: »Fortan, alle Tage der Erde, sollen Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht nicht gestört sein« (8,22).
Zugleich erhält der Mensch erneut die Verfügungsgewalt über die Erde, die Pflanzen, die Tiere, die Vögel, die Fische, und über alles Gewürm. Schuf sich da vielleicht Gott mit dem Menschen seinen eigenen, unkontrollierbaren Golem? Die globalen Folgen des Klimawandels mit Dürre einerseits und Überschwemmungen andernorts, Schmelzen der Polkappen und sich abzeichnenden Kriegen um die vom Polareis befreiten Bodenschätze legen das nahe.
Sintflut Gleich nach der Sintflut erzählt die Tora die Geschichte vom Turm zu Babel, die wir meist als ein erneutes Beispiel für die Verderbtheit der Menschen lesen. Dabei hören wir darin nicht davon, dass die Menschen böse oder gewalttätig waren wie die Generation, die in der Sintflut vernichtet worden war.
Im Gegenteil – anstatt sich gegeneinander zu wenden, hatten die Menschen »eine Sprache und ein und dieselben Worte« und machten sich daran, ein gemeinsames Projekt zu verwirklichen. Einigkeit und Gleichgesinntheit sind doch positive Werte – was also war das Vergehen der Menschen von Babel?
Sie sagten: »Wir wollen uns einen Namen machen« – aber gemäß der Schöpfungsgeschichte gehörte es doch zur Bestimmung des Menschen, allen Geschöpfen Namen zu geben und darin ihr Wesen zu erfassen (2,19). Entsprach der angestrebte Name nicht der menschlichen Natur?
angst Der Text spricht davon, dass die Menschen Angst hatten, zerstreut zu werden – und darum bauten sie sich mit einer Stadt und einem Turm eine Zivilisation, die sie an einem Ort zusammenhalten und die in die Höhe wachsen sollte.
Vielleicht wollten die Leute in Babel ja ihr Leben an Gott ausrichten, und der Turmbau war Ausdruck ihres Wunsches, Gott näherzukommen?
Was also lief falsch, dass sie dann genau das als Strafe bekamen, wovor sie sich gefürchtet hatten, nämlich zerstreut zu werden? Warum empfand Gott die Fähigkeit der Menschen zu Verständigung und Absprachen als Bedrohung, sodass eine Sprachverwirrung angerichtet und das gemeinsame Wirken der Menschen – wenigstens an diesem Projekt – unmöglich gemacht wurde?
Die traditionellen Erklärungen sprechen davon, dass hier eine Überheblichkeit der Menschen am Werke ist, die meint, wir könnten alles verwirklichen, was wir uns vornehmen – wir könnten auch den Himmel erreichen und uns an die Stelle von Gott setzen.
Absolute Einigkeit verhindert die Möglichkeit, konstruktiv zu streiten.
Eine andere Auslegung vermutet, dass der Turm den Zweck haben sollte, den Himmel zu stützen, damit er nicht einstürzt – und auch das erweckt den Eindruck, die Menschen wüssten besser, wie die Schöpfung aussehen sollte.
Außerdem erwähnt der Toratext den technologischen Fortschritt jener Zeit, nämlich ein Gebäude nicht nur aus Naturstein, sondern aus selbst gefertigten Ziegeln und Bitumen als Mörtel errichten zu können.
Ein Midrasch (Pirkej deRabbi Elieser 24) meint denn auch, dass die Leute von Babel so verliebt in die technische Machbarkeit waren, dass sie das Wohl der Menschen darüber vergaßen: »Wenn ein Mensch vom Bau fiel und starb, erregte es keinerlei Aufmerksamkeit. Wenn aber ein Ziegelstein herunterfiel und zerbrach, trauerten sie und weinten und sprachen: ›Weh uns, wann wird ein anderer an seiner Stelle auf den Bau gebracht werden?‹«
Vielleicht wurde der Turm zu Babel aber auch zerstört und die Menschen verstreut, weil die geschilderte Gleichheit eher ein Problem als ein Segen war. Immerhin benutzten die Leute von Babel ihre Einheit und ihre unmissverständliche Sprache dazu, um eine Zivilisation zu errichten, die vertikal, also von unten nach oben, strukturiert ist – und somit die Gleichheit abschafft zugunsten einer gesellschaftlichen Hierarchie, bei der die Obersten am meisten wert sind und meinen, im Rang gleich nach Gott zu kommen.
Gleichheit Möglicherweise sah Gott in Babel das Problem einer Gesellschaft, die zwar Gleichheit postuliert, aber damit das Auslöschen aller Individualität meint.
Wir kennen ja aus dem 20. Jahrhundert Gesellschaftsexperimente, bei denen das Individuum nichts wert war, sondern allein das Kollektiv oder das Volk zählte. Wenn Einigkeit und Gleichheit zum höchsten Wert erklärt werden, wird der Mensch in seiner Einzigartigkeit verleugnet, in seinem Verschiedensein vom Mitmenschen – und dann gibt es auch keine Möglichkeit zu konstruktivem Streit.
Auf eine solche Gefahr antwortet Gott mit der Verordnung einer Vielfalt von Sprachen und Kulturen. Die Menschen mussten auf diese drastische Weise erfahren, dass ihr Gegenüber anders ist als sie selbst. Dass es verschiedene Perspektiven auf dieser Welt gibt, merkten sie erst, als sie mit ihnen konfrontiert waren.
Erst wenn wir lernen, das eigene Ego zu reduzieren und auf die Äußerungen eines Gegenübers zu hören und zu antworten, entsteht ein Dialog.
Und damit beginnt eigentlich erst das Menschsein, nämlich, indem man sich auf den Mitmenschen bezieht. Nicht, indem man sich Verlautbarungen an den Kopf knallt, sondern indem man Verständigung sucht. Man muss versuchen zu verstehen, was die Auffassung des Gegenübers ist, worauf sie beruht und worin ihre Rechtfertigung besteht.
Ein Gespräch besteht aus Reden, Fragen und Antworten. Erst wenn wir es lernen, das eigene Ego zu reduzieren und auf die Äußerungen und Bedürfnisse eines Gegenübers zu hören und zu antworten, entsteht ein Dialog.
Dieser Prozess der Verständigung, der zwischen zwei Menschen beginnt und in allen gesellschaftlichen Ebenen stattfindet, ist eine Fähigkeit, die erlernt und immer wieder geübt werden muss. Sich auf andere beziehen und antworten zu können, ist das, was uns von den Erbauern des Turms zu Babel unterscheidet.
Ebenbild Gottes zu sein, heißt nicht, den Himmel zu stürmen, sondern Verantwortung auf der Erde zu übernehmen.
In vielen Sprachen steckt in dem Wort »Verantwortung«/»responsability«/»otvetsvennost« das Wort »Antwort«. Auch im hebräischen »Achariut« spiegelt sich der Bezug auf den anderen wider. Nicht im »Höher, schneller, weiter« erweisen wir unser großes menschliches Potenzial, sondern in der Verantwortung gegenüber unseren Mitmenschen und unserer Umwelt.
Die Autorin ist Rabbinerin der Jüdischen Gemeinde Hameln und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).
Inhalt
Der Wochenabschnitt Noach erzählt von Gottes Beschluss, die Erde zu überfluten. Das Wasser soll alles Leben vernichten und nur Noach verschonen. Der soll eine Arche bauen, auf die er sich mit seiner Familie und einem Paar von jeder Tierart zurückziehen kann. So erwacht nach der Flut neues Leben. Der Ewige setzt einen Regenbogen in die Wolken als Symbol seines ersten Bundes mit den Menschen. Doch die beginnen, die Stadt Babel zu erbauen, und errichten einen Turm, der in den Himmel reicht.
1. Buch Mose 6,9 – 11,32