Als vor einigen Jahren in Deutschland die hitzige Beschneidungsdebatte vom Zaun brach, gab es eine Vielzahl verschiedener Meinungen in den Medien, welche auch die allgemeine Stimmung der Bevölkerung widerspiegelte. Ein Zeitungsartikel erweckte damals mein besonderes Interesse. Es handelte sich um einen jüdischen Journalisten, der in einer deutschen Zeitung als Jude klar Stellung gegen die Beschneidung im Kindesalter bezog – damals glücklicherweise (fast) ein Einzelfall in der vielfältigen jüdischen Landschaft Deutschlands, die sonst geschlossen gegen ein Verbot einstand.
An besagtem Artikel interessierte mich insbesondere die Argumentation, die aus jüdischer Sicht ein Beschneidungsverbot belegen wollte. Unter anderem hieß es da, dass das jüdische Volk am Berg Sinai unbeschnitten die Tora erhalten konnte – ein Schlüsselpunkt in der jüdischen Geschichte –, was beweise, dass die Beschneidung nicht zu den wesentlichen Elementen des Judentums gehöre.
Übertritt Doch (zumindest) in diesem Punkt hat sich der Autor gründlich geschnitten – oder besser gesagt: vertan. Das genaue Gegenteil trifft nämlich zu. Der Talmud befasst sich in Kritot 9a mit der Frage, woher wir ableiten, welche Schritte für einen Übertritt ins Judentum erforderlich sind. Es sind (für Männer) derer drei: 1. Beschneidung, 2. Untertauchen im Ritualbad, 3. Annehmen der Tora und ihrer Gesetze.
Alle drei Schritte lassen sich direkt vom Berg Sinai ableiten. Erstens: Auch das jüdische Volk war damals – bedingt durch den Auszug aus Ägypten – vollkommen beschnitten (wie sich einer ausdrücklichen Satzstelle im Propheten Jehoschua entnehmen lässt). Zweitens: Es tauchte während der Vorbereitungstage im Ritualbad unter und nahm drittens schließlich mit den Worten »naase wenischma« (wir wollen tun, und wir wollen hören!) am 6. Siwan, 50 Tage nach dem Auszug aus Ägypten, die Tora und ihre Gesetze am Berg Sinai an.
Die Parallele zwischen dem Übertritt eines Proselyten und dem großen Ereignis am Berg Sinai führt zu einem interessanten Schluss: Am Berg Sinai vollzog das gesamte Volk Israel den Übertritt zum Judentum, womit dieses Ereignis zum Prototypen eines jeden späteren Übertrittes wurde.
Jedenfalls geht aus unserer Überlieferung eindeutig hervor, dass die Beschneidung wesentlicher und unabdingbarer Bestandteil der Ereignisse war, welche das jüdische Volk und das Judentum formten.
Dem Autor des damaligen Zeitungsartikels habe ich übrigens in einem persönlichen Brief die Gegenargumente und die Frage zugeschickt, wie und mit welchen Belegen er zu einem anderen Ergebnis gekommen sei – bis heute warte ich auf eine Antwort.
Ursprung Die Ausführungen haben jedoch noch andere weitreichende Konsequenzen, was das grundsätzliche Verständnis des Schawuotfestes betrifft. Im Gegensatz zum Pessachfest, das stark im Rampenlicht steht und von weiten Teilen des jüdischen Volkes wahrgenommen und gefeiert wird (selbst während antireligiöser Zeiten des Kommunismus begingen viele Juden weiterhin das Pessachfest und versorgten sich – meist im Geheimen – mit Mazzot), ist dem Schawuotfest nicht dieselbe Aufmerksamkeit beschieden.
Eine mögliche Erklärung hierfür lässt sich sowohl im Ursprung als auch in der jeweiligen Ausübung der beiden genannten Feste vermuten: Das Pessachfest feiert die Gründung des israelischen Volkes mit dem Auszug aus Ägypten, kann also als eine Art nationales Fest verstanden werden, das entsprechend mit populären Liedern, kulinarischen Besonderheiten, im familiären Rahmen und mit dem Untermauern der Volkszugehörigkeit begangen wird – mit Betonung auf der Befreiung und Werdung des jüdischen Volkes. Dementsprechend kann sich jeder dem jüdischen Volk Zugehörige mit dessen Inhalten und Traditionen verbinden.
Lernnacht Demgegenüber steht das Schawuotfest eher für die religiöse Seite, feiern wir doch damit die Übergabe der Tora und ihrer Gesetze am Berg Sinai mit dem bekannten Brauch, die ganze Nacht über Tora zu lernen, um im Anschluss im Morgengebet die Zehn Gebote erneut zu erhalten.
Dieses Fest spricht mit seiner traditionell-religiösen Atmosphäre also eher die religiös Geprägten an, jene, die auch ihr tagtägliches Leben nach den Werten und Gesetzen der Tora ausrichten – eine weniger breite Volksschicht als die sich national zugehörig Fühlenden. Auch der kulinarische Genuss des traditionellen Käsekuchens an Schawuot kann dieses Ungleichgewicht nicht ausgleichen.
Jedoch verkennen wir damit den tatsächlichen Charakter des Schawuotfestes. In Wirklichkeit definiert dieses Fest nicht weniger als das Pessachfest das Wesen des jüdischen Volkes!
Der Grundgedanke besteht darin, dass wir nicht bloß aus Ägypten ausgezogen sind, um ein freies Volk wie jedes andere zu sein, sondern um einen besonderen Inhalt zu erhalten – eine Gesetzeslehre und ein Wertesystem, welche die Menschheit von Grund auf formen und verändern würden, oder mit einem Wort: die Tora! Sie ist es, die uns zum jüdischen Volk macht, im religiösen ebenso wie im nationalen, kulturellen und historischen Sinn.
Segen Besonders deutlich wird dies anhand des Segensspruches, den wir über die Tora sprechen: »Gelobt seist Du, Ewiger, ... welcher uns von allen Völkern auserwählt hat und uns die Tora gegeben hat.« Die Auserwählung des Volkes Israel wird nicht zufällig dem Tora-Segensspruch zugefügt, es handelt sich auch nicht um einen inhaltlichen Fremdkörper. Tatsächlich ist es ein und dieselbe Sache: die Besonderheit des jüdischen Volkes und der Erhalt der Tora.
Die Offenbarung G’ttes am Berg Sinai und die Übergabe der Tora vollendeten, was mit dem Auszug aus Ägypten begonnen hat – die Formung des jüdischen Volkes –, und gaben ihm eine ewige Aufgabe und Mission mit auf den Weg. Einige Belege für diese These:
1. Am brennenden Dornbusch, noch vor der Befreiung aus Ägypten, gibt G’tt Mosche dies als Zeichen mit, dass das Volk auf dem Wege aus Ägypten wieder an diesen Ort kommen werde, an den Berg Sinai, um dort G’tt zu dienen (2. Buch Mose 3,12).
2. Am Sederabend ist es üblich, vier Becher Wein zu trinken. Die ersten drei stehen für drei Phasen des Auszugs aus Ägypten (2. Buch Mose 6,6). Der vierte Becher Wein symbolisiert die vierte Phase – jene, die für die Offenbarung G’ttes am Berg Sinai steht (dort 6,7).
3. Direkt im Anschluss an den Sederabend, in der Diaspora zusammen mit dem zweiten Sederabend, beginnt die Zählung des Omers. Mit dem 50-tägigen Omerzählen verbinden wir nicht nur die beiden Feste – Pessach und Schawuot – und geben damit der Vorfreude auf den Erhalt der Tora nach Ablauf der 50 Tage Ausdruck (Erklärung des Sefer Hachinuch), vielmehr erschaffen wir das Schawuotfest!
Omerzählen Dieses Fest hat nämlich kein eigenes Datum, keine Tages- und Monatsangabe, wie etwa bei anderen Festen der Tora üblich, seine Festlegung ist per Definition von Pessach und dem Omerzählen abhängig (siehe 5. Buch Mose 16, 9–10). Dies ist auch der Grund, weswegen es (vielerorts) Brauch ist, das Schawuotfest am 6. Siwan erst mit Einbruch der Dunkelheit zu beginnen, um die Omerzählung bis zum halachischen Eingang des 50. Tages, also bei Nachteingang des 6. Siwan, zu vervollständigen
Das Fazit der Ausführungen besteht darin, dass das Schawuotfest nicht bloß ein Fest der »Religiösen«, der nach den Richtlinien des Religionsgesetzes lebenden Juden, ist und sein soll.
Vielmehr ist Schawuot ein nationales, volkstümliches Fest, denn die Tora ist das besondere Erbe des gesamten jüdischen Volkes, sein gemeinsamer Ursprung und Nenner, der rote Faden durch seine Existenz, Geschichte und seine spezielle Mission sowie sein Beitrag für die Menschheit.
Aus der Erfahrung und den Erlebnissen an den verschiedenen Orten, an denen ich persönlich Schawuot feiern durfte, egal mit wem und wo – sei es in der Schweiz, in einer israelischen Jeschiwa, in diversen Gemeinden Deutschlands oder auch Israels –, darf ich Ihnen versichern, dass das gemeinsame Lernen, Vertiefen, Erörtern und das Diskutieren mit Leib und Seele bis zum Umfallen bis tief in die Nacht hinein und darüber hinaus überall einen ganz besonderen Reiz hat, ja, von einer Atmosphäre umgeben wird, die einmalig ist und nur in dieser besonderen Nacht erzeugt werden kann, vielleicht sogar schon per se in der Luft liegt.
Die daraus resultierenden Erkenntnisse und Erhellungen strahlen weit über dieses Fest hinaus und bereichern jeden Teilnehmer ungemein. In diesem Sinne: Mögen alle einen Anteil an der Tora haben und sich an diesem besonderen Fest erfreuen!
Der Autor ist Rabbiner in Karmiel/Israel.