Der Valentinstag, der »Tag der Liebe«, ist ein nichtjüdischer Feiertag, und demnach könnte das Feiern aufgrund seines christlichen Ursprungs aus jüdischer Sicht sogar religionsrechtlich verboten sein. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – ist er ein guter Anlass, über die Idee der Liebe im Judentum nachzudenken.
Unterscheidet sich die jüdische Auffassung von Liebe von der allgemeinen Wahrnehmung? Und was hält das Judentum eigentlich von Romantik, Rosen und dem blinden Verliebtseinstaumel?
Eine Grundregel der jüdischen Philosophie besagt, dass der Kern eines Konzepts im Judentum dort zu finden ist, wo es zum ersten Mal in der Tora erwähnt wird.
Und die Liebe wird in der Tora erstmals bei der Begegnung von Jitzchak und Riwka genannt. Nachdem Elieser, der Diener Awrahams, Riwka am Brunnen als geeignete Frau für Jitzchak ausgewählt hatte, weil sie ihm und seinen Kamelen großzügig Wasser geschöpft hatte, beschreibt die Tora den Verlauf ihrer Beziehung folgendermaßen: »Da brachte Jitzchak sie in das Zelt seiner Mutter Sara. Er heiratete Riwka, sie wurde zu seiner Frau, und er liebte sie« (1. Buch Mose 24,67).
Erst Hochzeit, dann Liebe?
Auffällig ist die ungewöhnliche Reihenfolge der Ereignisse. Erwartungsgemäß beginnt eine Beziehung mit dem Verlieben, und erst darauf folgt die Hochzeit. Doch hier heiratete Jitzchak Riwka zuerst – und erst danach entwickelte sich die Liebe.
Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) kommentiert dazu: »Je mehr sie sein Weib wurde, desto mehr liebte er sie! Wie diese Ehe des ersten jüdischen Sohnes werden die jüdischen Ehen, die meisten jüdischen Ehen, nicht durch die Leidenschaft, sondern durch die Vernunft geschlossen. Eltern und Verwandte überlegen, ob die jungen Leute zueinanderpassen; und darum steigt die Liebe, je mehr sie sich kennenlernen. Die meisten nichtjüdischen Ehen werden jedoch nach dem geschlossen, was sie ›Liebe‹ nennen, und da braucht man nur in die nach dem Leben gezeichneten Novellen-Schilderungen zu blicken, um zu gewahren, welche Kluft da zwischen der ›Liebe‹ vor der Ehe und nach derselben gähnt, wie schal und fade alles nachher (ist), wie man sich alles ganz anders vorgestellt (hat) usw. Diese ›Liebe‹ war blind, jeder Schritt in die Zukunft hinein bringt Enttäuschung; von der jüdischen Ehe aber heißt es: ›Da ist die Hochzeit nicht Blütengipfel, sondern Wurzelkeim der Liebe!‹«
Die Weisen sagen: Liebe, die von nichts abhängt, hört niemals auf.
Rabbiner Hirsch hebt hier den Unterschied zwischen einer idealisierten Romanze und einer Beziehung nach dem Modell der Tora hervor. Eine auf blinder Liebe basierende Verbindung birgt das Risiko, fundamentale Differenzen zwischen den Partnern zu übersehen oder zu ignorieren.
Die Tora hingegen rät dazu, zunächst zu prüfen, ob die potenziellen Partner überhaupt zusammenpassen, um ein gemeinsames Leben aufbauen zu können. Passen ihre Ziele und Werte zueinander? Ergänzen sich ihre Charaktereigenschaften? Diese Überlegungen sollten idealerweise vor einer starken emotionalen Bindung erfolgen, und dabei ist es hilfreich, auch objektive Meinungen einzubeziehen.
Doch Rabbiner Hirsch geht noch weiter: Liebe im Judentum ist nicht der erste Funke zwischen zwei Menschen, sondern etwas, das wächst und gefördert werden muss – und die Hochzeit ist erst der Anfang. Wenn eine Beziehung nur auf diesem ersten Funken basiert, ohne dass sich wahre Liebe entwickelt und vertieft, kann es schnell passieren, dass der Funke erlischt und die Beziehung zerbricht.
Diesen Gedanken bringen auch die Weisen in den Sprüchen der Väter, dem Mischna-Traktat Pirkei Avot zum Ausdruck: »Jede Liebe, die von einer Sache abhängig ist – hört die Sache auf, hört die Liebe auf; die aber von keiner Sache abhängt, hört niemals auf« (Pirkei Avot Kap. 5, Mischna 16).
Wie entwickelt man wahre Liebe zum Partner?
Doch wie entwickelt man wahre Liebe zum Partner? Rabbi Eliyahu Dessler (1892–1953) schreibt, was man gewöhnlich annimmt: Man gibt demjenigen, den man liebt. In Wahrheit aber ist es umgekehrt: Man liebt denjenigen, dem man gibt. Und je mehr man gibt, desto stärker und intensiver wird die Liebe zu dieser Person.
Ein gutes Beispiel dafür ist die mütterliche Liebe zu einem neugeborenen Kind. Nach monatelangem Geben während der Schwangerschaft – ohne jegliche Gegenleistung – entwickelt sich die tiefe mütterliche Liebe. Man könnte argumentieren, dass diese Liebe von Natur aus vorhanden ist, doch Rabbi Dessler stützt seine These auf ein persönliches Erlebnis: Während des Krieges wurde eine Mutter für mehrere Jahre von ihrem Kind getrennt. Nach der Wiedervereinigung fiel es ihr jedoch schwer, die frühere emotionale Bindung wiederherzustellen.
Dieses Prinzip zeigt sich auch in der hebräischen Sprache: Das Wort für Liebe, Ahawa, leitet sich vom aramäischen Wort Haw ab, das »geben« bedeutet.
Lieben bedeutet Geben
Genau das meint Rabbiner Hirsch: Je besser sich die Partner kennenlernen und aufeinander eingehen, desto mehr können sie einander geben – und desto mehr wächst die Liebe.
Liebe ist jedoch nicht nur das Ziel einer Beziehung, sondern auch ein Mittel. Ihr ultimatives Ziel ist es, zwei Menschen zu einer Einheit zu verschmelzen.
Das illustriert eine Anekdote über Rabbi Aryeh Levin (1885–1969), den »Zaddik von Jerusalem«. Seine Frau klagte über Schmerzen im Fuß, und gemeinsam gingen sie zum Arzt. Als dieser nach dem Problem fragte, antwortete Rabbi Levin: »Der Fuß meiner Frau tut uns weh.«
Ein Paar kann also so sehr eins werden, dass es sogar die Schmerzen des anderen spürt. Dieses Ideal der Verschmelzung zweier Personen spiegelt eine tiefere spirituelle Realität wider: Im Talmud heißt es, dass bereits vor der Geburt eines Menschen verkündet wird, wer sein zukünftiger Partner sein wird.
Adam und Chava wurden als ein Mensch erschaffen
Was meinen die Weisen damit, dass der Partner von vornherein bestimmt ist? Die Tora beschreibt, dass Adam und Chava ursprünglich als ein einziger Mensch erschaffen wurden. Erst später trennte G’tt sie, sodass zwei Individuen entstanden. Die Meister der Kabbala erklären, dass es mit den Seelen genauso ist: Die Seelen eines Paares waren einst eine Einheit, wurden aber geteilt und in zwei Körper gesandt.
Die Aufgabe des Menschen besteht nicht nur darin, einen Lebenspartner zu wählen, sondern die andere Hälfte seiner Seele zu finden.
Die Aufgabe des Menschen besteht darin, die andere Hälfte seiner Seele zu finden.
Auch diese Idee wird im Wort Ahawa angedeutet: Seine Gematria, also sein Zahlenwert nach dem hebräischen Alphabet, entspricht dem Zahlenwert des Wortes Echad, was »Eins« oder »Einigkeit« bedeutet.
Dieses Konzept hat auch halachische Auswirkungen: Im Talmud (Sanhedrin 28a) heißt es, dass in Bezug auf die Einschränkung von Zeugenaussagen aufgrund von Verwandtschaft die Regelungen Baal k’Ischto (»der Ehemann ist wie die Ehefrau«) und Ischa k’Baala (»die Ehefrau ist wie der Ehemann«) gelten. Daher können sie beispielsweise nicht als Zeugen für ihre Stiefkinder fungieren, obwohl keine direkte Verwandtschaft besteht. Die Partner werden halachisch gesehen wie eine Einheit betrachtet.
Doch Liebe allein reicht in einer Beziehung nicht aus. Maimonides, der Rambam (1138–1204), schreibt (Mischne Tora, Hilchot Ischut 15:19), dass ein Mann seine Frau so lieben soll wie sich selbst – und sie sogar mehr respektieren soll als sich selbst!
Diese Verpflichtung wird in der jüdischen Tradition als so zentral angesehen, dass der bekannte Kabbalist Rabbi Chaim Vital (1542–1620) überlieferte: Selbst wenn ein Mensch in seinem Leben viele gute Taten vollbringt und großzügig Wohltätigkeit übt, wird im himmlischen Gericht genau geprüft, wie er seine Frau behandelt hat. Falls er in diesem Bereich nachlässig war, zählt all das andere nichts.
Lächeln statt Rosen
Rabbi Schlomo Zalman Auerbach (1910–1995), eine der größten halachischen Autoritäten des 20. Jahrhunderts, hatte die Gewohnheit, vor dem Betreten seines Hauses kurz innezuhalten. Er setzte bewusst sein herzlichstes und wärmstes Lächeln auf, um seine Frau damit zu begrüßen. Diese kleine Geste, die ihn nur wenige Muskelbewegungen kostete, erfüllte ihre 54 gemeinsamen Jahre mit Liebe und Wertschätzung.
»Blumen sind das Lächeln der Erde«, sagte der amerikanische Philosoph und Schriftsteller Ralph Waldo Emerson (1803–1882). Vielleicht gehören Blumen, insbesondere Rosen, deshalb zu den beliebtesten Geschenken am Valentinstag. Bevor wir unseren Geliebten das »Lächeln der Erde« schenken, sollten wir sicherstellen, dass wir ihnen regelmäßig unser eigenes Lächeln schenken, so wie Rabbi Auerbach es vorlebte.
Der Autor ist Assistenz-Rabbiner der Gemeinde Kahal Adass Jisroel, Dozent am Rabbinerseminar zu Berlin und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschlands.