Eigentlich ist es längst an der Zeit, die jüdische Tradition in ihrer Beziehung zum demokratischen Rechtsstaat auszulegen und konstruktiv auf die heutige Bundesrepublik Deutschland zu beziehen. Doch dazu kann es kaum kommen. Alle paar Monate verhindert eine antisemitische Zumutung oder eine israelfeindliche Verdrehung und neuerdings auch ein religionsfeindliches Urteil, dass eine solche inhaltliche Würdigung beginnt. So ist mit dem infamen Kölner Beschneidungsurteil die jüdische Tradition als etwas grundsätzlich Fremdes abgestempelt worden, statt sie positiv, als einen der Ausgangspunkte für das demokratische Selbstverständnis zu verstehen.
Trotzdem bleibt die Herausforderung, jüdische Religion und demokratischen Rechtsstaat in einem produktiven Wechselverhältnis sehen zu lernen, über die gegenwärtige Nagelprobe hinaus. Sie rührt an der grundsätzlichen Frage nach der Bedeutung von Religionsfreiheit in der demokratischen Öffentlichkeit.
Das Thema hat in den vergangenen Jahren einen ambivalenten Beigeschmack bekommen. Mit der Konfrontation des radikalen Islam stellte sich die Frage, ob Religionsfreiheit noch vorbehaltslos gewährt werden kann oder ob Religionen nicht zunächst in einer Bringschuld stehen, eine mit dem demokratischen Rechtsstaat kompatible Version von sich zu bieten.
Juden und Christen meinten, dies längst geleistet zu haben. Doch mit den Kontroversen, wie um das Tragen des Kopftuches von Musliminnen, ging es plötzlich auch um die Zulässigkeit von christlichen und jüdischen Symbolen im öffentlichen Raum. Die Furcht vor muslimischen Parallelgesellschaften brachte zugleich eine Identitätsdebatte mit sich, wie christlich und vielleicht sogar auch jüdisch die deutsche Gesellschaft sei.
Prägung In jedem Fall ist sie von christlichen und jüdischen Werten geprägt, denn das demokratische System, das in Deutschland praktiziert wird, baut auf religiösen Grundannahmen auf, die sich von dem Gebot der Achtung der Menschenwürde herleiten. Damit geht es auf eine allerhöchste Instanz zurück, die Kriterien zur politischen Gestaltung der Gesellschaft vorgibt. Religiöse Menschen nennen diese Instanz »Gott«. Diejenigen, die dies nicht tun, aber dennoch einem inneren Maßstab folgen, der zwischen Recht und Unrecht unterscheidet, sind deswegen nicht unreligiös. Indem auch sie sich auf die Menschenwürde berufen, stellen sie die Politik in einen religiösen Horizont, auch wenn sie diesen nicht thematisieren wollen.
Zur Menschenwürde gehört, dass der Mensch ohne die Verbindung mit anderen Menschen nicht denkbar ist, und dass er darum immer mehr ist als nur er selbst. Dieses über ihn selbst hinausgehende Mehr ist die Bedingung dafür, dass Menschen Gemeinschaft bilden und Politik gestalten können, dass sie Werte teilen, eine Zukunft haben und Kriterien aufstellen, die sie nur zu mehreren verwirklichen können. Das in jedem Menschen liegende, jedes Mal jedoch etwas anders nuancierte politische Potenzial dieses Mehr, das religiöse Menschen oftmals von Gott her als Bestimmung und Selbsterwählung zur Verwirklichung von etwas gewahren, findet seine maximale Ausgestaltungsmöglichkeit in einem demokratischen Rechtsstaat. Er vermag dem Recht, man selbst und dabei auch wieder anders zu sein, einen Rahmen zu bieten, der dieses Recht sowohl konkretisiert als auch am Recht der anderen begrenzt. Darum ist das im Grundgesetz festgelegte demokratische System aus durchaus religiösen Gründen nicht verhandelbar.
Die politische Sphäre enthält also eine von vornherein religiöse Dimension. Und diese fordert die religiösen und nichtreligiösen Weltanschauungen aller Mitglieder der Gesellschaft heraus. Dabei geht es nicht nur darum, die Spezifika einer jeweiligen religiösen Tradition zu schützen. Die Vorstellung, dass sich die Rolle der Religion in der demokratischen Öffentlichkeit allein auf Debatten zum Schutz der jeweils eigenen Tradition bezieht, ist eine sehr beschränkte Auffassung von der Beziehung zwischen Religion und Politik. Dementsprechend sind nicht nur der Islam, sondern auch das Christentum und das Judentum heute herausgefordert, die Beziehung zwischen Religion und Politik und damit die Rolle der Religion in der demokratischen Öffentlichkeit neu zu bestimmen.
In Deutschland haben die institutionalisierten Religionen jedoch nicht zuletzt auch an Glaubwürdigkeit eingebüßt, weil sie ihre konstitutive Mitverantwortung nicht nur »in« einer, sondern »für« eine demokratische Öffentlichkeit nicht ausreichend verwirklichen. Die Abkehr vieler Menschen von der Religion geschieht oftmals, weil nicht klar ist, was die Religion konstitutiv zur Demokratie beizutragen hat. Statt den demokratischen Rahmen selbst weiter auszugestalten, ist sie zum Rückzugsgebiet geworden, von dem aus die Wirklichkeit lediglich beobachtet, beklagt und verurteilt wird.
Grundrechte Die im Grundgesetz verbürgten Grundrechte stammen aus der Religion selbst. So begründet sich die Menschenwürde als Ausgangspunkt des politischen Systems in der von der Hebräischen Bibel postulierten Ebenbildlichkeit Gottes im Menschen und damit einer Gleichheit aller Menschen vor Gott. Hieraus leiten sich Freiheitsrechte wie die Meinungsfreiheit und Gleichheitsrechte wie gleiche Chancen bei der Teilhabe am gesellschaftlichen Prozess ab.
Obwohl die Grundrechte der Religion entstammen, müssen sich religiöse, gleichwohl demokratisch denkende Menschen jedoch eingestehen, dass diese nicht unbedingt von den institutionalisierten Religionen erkämpft und durchgesetzt worden sind, sondern von säkularen Bewegungen, und dies oft gegen den Widerstand der offiziellen Religion. Sie müssen, wenn sie als religiöse Menschen auf das politische und dabei demokratiebildende Potenzial religiöser Traditionen verweisen, zugeben, dass diese ein säkulares Gegenüber brauchen, weil sie es als religiöse Traditionen allein nicht schaffen. Die institutionelle Trennung von Staat und Kirche ist die Voraussetzung dafür, dass die guten demokratischen Potenziale der Religion in einem demokratischen Rechtsstaat verwirklicht werden können.
Der Auftrag der Gesellschaft an die Religionen geht heute dahin, nicht allein bestehende Traditionen zu schützen, sondern ihre demokratiebildenden Potenziale neu auf die Herausforderungen der Gegenwart hin zu erschließen. Das Gegenteil hiervon bewirken allerdings Urteile wie das Kölner Beschneidungsurteil, die darauf angelegt sind, den Graben zwischen der jeweils als fremd empfundenen religiösen Tradition und dem säkularen Rechtsstaat zur Unüberbrückbarkeit hin zu vertiefen.
Dabei ist die demokratische Öffentlichkeit ebenso wie die jeweilige religiöse Tradition herausgefordert, das Spannungsverhältnis zwischen Religion und säkularem Rechtsstaat neu zu überdenken. Damit ist auf keinen Fall eine Aufhebung der institutionellen Trennung zwischen Staat und Kirche gemeint. Denn beide brauchen sich gegenseitig, um sich zu verwirklichen. Wie die Religion das Eingeständnis leisten muss, das säkulare Gegenüber zu brauchen, um ihre guten politischen Potenziale zu verwirklichen – so muss auch umgekehrt der demokratische Rechtsstaat anerkennen, dass er mit Postulaten die Gesellschaft zum Guten gestaltet, die aus der Religion stammen.
Vielleicht kann die jüdische Religion zu diesem Spannungsverhältnis einen eigenen, hilfreichen Beitrag leisten, zumal sie – lange vor der Moderne – schon einmal eine konstitutive Transformation durchgemacht hat, in der ein säkulares Gegenüber als förderliche Instanz für das eigene, religiöse System angesehen wurde. Der rabbinische Ausdruck für »säkular« heißt »Derech Eretz« (weltlicher Weg). Der Midrasch, die spätantike rabbinische Auslegung der Hebräischen Bibel, erklärt, dass es schon vor der Offenbarung der Tora am Berg Sinai, nämlich von Adam an, 26 Generationen gegeben habe, die weltliche Wege kannten, auf denen sie, ohne sich dessen bewusst zu sein, die Tora verwirklichten.
»R. Jischmael bar R. Nachman hat gesagt: der weltliche Weg ist der Offenbarung der Tora um 26 Geschlechter vorangegangen, was sich aus dem 1. Buch Moses 3,24 schließen lässt: ›Zu bewachen den Weg zum Baume des Lebens‹ – unter Derech, Weg, ist nichts anderes als Derech Eretz, weltlicher Weg, unter Etz Hachajim, Baum des Lebens, nichts anderes als die Tora zu verstehen.« (WajikraR, Par. IX, Kap. 7,11) Das heißt nicht nur, dass auch die Nichtjuden Wege zur Tora kennen, sondern dass säkulare Wege ebenfalls zur Tora führen können.
Wege Dementsprechend lehrten die Rabbanan: »Wer Weise von Israel sieht, spreche ›Gepriesen sei Er, der von seiner Weisheit denen, die Ihn fürchten, mitgeteilt hat‹. Wer Weise von den weltlichen Völkern sieht, spreche ›Gepriesen sei Er, der von seiner Weisheit an Menschen aus Fleisch und Blut gegeben hat‹. Wer Könige von Israel sieht, spreche ›Gepriesen sei Er, der von seiner Herrlichkeit denen, die Ihn fürchten, mitgeteilt hat‹. Wer Könige von den weltlichen Völkern sieht, spreche: ›Gepriesen sei Er, der von seiner Herrlichkeit an Menschen aus Fleisch und Blut gegeben hat‹.« (BT, Berachot 58a)
Mit der Frage nach der Bedeutung der Religion in der demokratischen Öffentlichkeit eröffnet sich zugleich die Frage nach der religiösen Dimension in der Politik und dem politischen Horizont, in dem jede religiöse Tradition zu verstehen ist. In diesem Spannungsfeld ist die demokratische Öffentlichkeit ein notwendiges säkulares Gegenüber, von dem die religiösen Traditionen Anstöße erhalten, um ihr Eigenes zu verwirklichen. In dieses Spannungsfeld sollten wir endlich bewusst eintreten können, um die Werte unserer Religion zu verwirklichen, statt immer wieder von antisemitischen und nunmehr auch antireligiösen Provokationen ins Abseits einer permanenten Nagelprobe verwiesen zu werden.
Die Autorin ist Rabbinerin des Egalitären Minjans in Frankfurt am Main.