Die letzten Wochen des zu Ende gehenden Jahres und die ersten zehn Tage des neuen Jahres stehen im Zeichen der Teschuwa, der Reue und Umkehr. Das Schofar, das in diesen Tagen geblasen wird, soll daran erinnern. An den Hohen Feiertagen geht es dann um Sünde, Vergebung, Neuanfang. Die Rabbiner unterscheiden dabei zwischen Sünden, die zwischen Menschen begangen werden, und Sünden zwischen Mensch und Gott. Die Generation 2.0 kennt noch eine besondere Kategorie: die kleinen und großen im Internet begangenen Sünden. Im weltweiten Netz versündigt man sich nicht nur gegen andere Menschen und göttliche Gebote, sondern bisweilen sogar gegen sich selbst.
Haben Sie auch in den vergangenen Monaten zu häufig und zu lange vor dem Computer gesessen? Haben Sie auch kostbare Zeit mit dem größten Blödsinn, den das Netz zu bieten hat, verbracht? Haben Sie auch, statt aufmerksam das Gespräch mit Partner/Partnerin oder Kindern zu führen, währenddessen heimlich im Blackberry die E-Mails gecheckt? Haben Sie auch mit »Copy/-Paste« Texte aus fremden Federn für eigene Zwecke übernommen, Musik, Bilder oder Videos nicht ganz legal heruntergeladen? Haben Sie auch Kurzmitteilungen vom Computer oder Smartphone gesandt, deren Inhalt nicht ganz der Wahrheit entsprach: »bin schon unterwegs«, »kann Ihre Mail erst jetzt beantworten«? Haben Sie sich über dumme Bekenntnisse im Facebook amüsiert, oder sich über Missgeschicke anderer auf Youtube schiefgelacht?
Fragen Vielleicht wäre es sinnvoll, in diesen Tagen einmal darüber nachzudenken, sich selbst ein paar Fragen zu stellen. Vielleicht sollten wir im Netz nichts als gegeben hinnehmen, und einfach etwas bewusster mit den Inhalten umgehen. Es müssen ja nicht gleich die Fragen sein, die auf www.frumsatire.net aufgelistet sind. Dort macht man sich zum Beispiel Gedanken darüber: Kann man sein Gebet tweeten? Oder müssen Mann und Frau, die ein gemeinsamen Facebook-Account haben, sich im Netzwerk während der Nidda-Periode (der Zeit der Unreiheit) voneinander fernhalten? Nein, es sind andere Fragen, wie zum Beispiel die von Rabbiner Asher Meir: Darf ich einen Menschen, dem ich zum ersten Mal begegne, vorher googeln? Oder darf ich eine E-Mail, die an mich adressiert war, einfach an andere weiterleiten? Dürfen Nachrichten und Informationen ohne Prüfung des Wahrheitsgehaltes an andere übermittelt werden?
Das Internet erlaubt, öffentlich Meinung zu äußern und Position zu beziehen, ohne redaktionelle Einschränkung, die andere Medien aus dem einen oder anderen Grund selbst vornehmen müssen. Gut so. Andererseits bietet es auch die Möglichkeit, unkontrolliert Unterstellungen, Lügen und persönliche Angriffe zu verbreiten. Eine Meinungsäußerung im Internet ist so öffentlich wie nirgendwo sonst. Und wie schnell wird die Sache persönlich, verletzend, diffamierend.
Abrechnung Und trotz dieser Gefahren hat das Medium mehr Vor- als Nachteile. Das meint unter anderem auch Rabbiner und Blogger Levi Brackman, der allerdings zu bedenken gibt, dass man nur sehr genau darüber nachdenken müsse, wie man sich richtig verhält und vor Fehlern hütet. In diesem Zusammenhang verweist Brackman auf das kabbalistische Hauptwerk Zohar, das dazu auffordert, jeden Abend eine genaue Abrechnung darüber zu erstellen, was man am Tag so alles gesagt und getan hat. Und er erinnert an den berühmten chassidischen Rabbiner Yisroel Firedman aus Ruzhyn (1797–1850), der sich kein einziges Mal bewegt haben soll, ohne zuvor genau zu überlegen, warum es es tun sollte. Nicht aus Faulheit, sondern aus Bedacht.
Vielleicht kann eine derartige Abrechnung und die Kontrolle von Taten und Aussagen auch für unsere Aktivitäten in E-Mails, Blogs, Facebook oder Twitter gelten. Vor dem Schreiben denken, selber denken! Doch genau das scheint in Gefahr zu sein. In seinem Buch Payback mahnt Frank Schirrmacher, dass die Bereitschaft der Computernutzer immer mehr zunimmt, das Fragen und dann auch gleich die Beantwortung der Fragen der Maschine zu überlassen.
Schirrmacher warnt nicht nur vor einer digitalen Informationsüberladung sondern vor einem existenziellen Wandel, »an dessen Ende der Verlust des freien Willens stehen könnte«. Er äußert die Befürchtung, dass das Internet in einer nächsten Entwicklungsstufe uns den »Prozess des Abwägens und Gewichtens möglicherweise vollends aus der Hand« nimmt, dass wir also das, was wir wollen und was aus unseren Gedanken folgt, an die Maschine delegieren. Der FAZ-Herausgeber und Feuilletonist stellt fest, dass der Computer großartige Verbindungen zu anderen Menschen aufbaut, »der Preis dafür ist aber ein gestörtes Verhältnis zu uns selbst«. Im Buch wird unter anderem Katie Hafner zitiert, die in der New York Times von einer »sonderbaren Abkopplung von sich« schrieb. »Aufmerksamkeit, Zeit und Konzentration reichen nicht aus, die eigenen Äußerungen gleichermaßen innerlich zu verarbeiten«, so Hafner.
Wahl Wir haben die Wahl: Das Internet ist gut und schlecht. Es hängt von uns ab. So wie es auch im Toraabschnitt der vergangenen Woche, »Ki Tawo«, deutlich wird: Wir haben einen freien Willen, wir können wählen. Gehorchen wir »der Stimme des Ewigen«, wird es uns gut gehen, wenn nicht, »kommen all diese Flüche« über uns. Und in eben diesem Abschnitt (5. Buch Moses 27,8) fordert Mosche vom Volk Israel: »Und schreibe auf die Steine alle Worte dieser Lehre«. Die Steine von heute sind unsere Smartphones, Laptops, Netbooks oder iPads. Wir sollten uns von Zeit zu Zeit daran erinnern, sie in diesem Sinne zu nutzen.
Und wir sollten uns zur »Aufmerksamkeit und Konzentration« zwingen, uns die Zeit nicht nehmen lassen. Die Tage der Teschuwa sind eine gute Gelegenheit, darüber nachzudenken. Wir sollten uns umprogrammieren, wenn wir mit dem Internet und den digitalen Technologien ein Problem haben.
Und wer dazu den Weckruf des Schofars braucht, und es nicht bis in die Synagoge schafft: Es gibt zahlreiche Webseiten (wie zum Beispiel: www.jewishmag.com/71mag/shofar/shofar.mp3), auf denen die Töne des Widderhorns zu hören sind. Schana Towa!