In der Hochphase der militärischen Intervention der USA in Afghanistan eroberten die amerikanischen Bodentruppen im November 2001 die afghanische Hauptstadt Kabul. Während die Armee Stadtviertel für Stadtviertel sicherte, stießen die Soldaten auf ein altes Gebäude, das die letzte Synagoge von Kabul beheimatete. Sie machten außerdem die Bekanntschaft der letzten beiden Juden, die – nachdem die Jüdische Gemeinde der afghanischen Hauptstadt einst etwa 40.000 Mitglieder gezählt hatte – als letztes Zeugnis jüdischer Existenz verblieben waren.
Die beiden letzten Juden Kabuls mit Namen Simentov und Levy lebten zwar im gleichen Gebäude, das auch die Synagoge beherbergte, aber sie redeten kein Wort miteinander, außer, um den jeweils anderen zu beschimpfen und zu verfluchen. Und als sie nach dem Ende der Taliban-Terrorherrschaft ihre Religion endlich wieder offen ausleben durften, zündeten sie die Kerzen ihrer Leuchter zu Beginn des Chanukkafestes zwar der Tradition entsprechend an, allerdings taten sie das an unterschiedlichen Enden des historischen G’tteshauses.
Sie waren gespalten in Einigkeit. Die Geschichte klingt so absurd, dass man eigentlich nur darüber lachen kann. Sie wirft aber auch ein Licht auf ein historisches Faszinosum: den innerjüdischen Streit. Sei er nun theologisch, ideologisch oder politisch motiviert: Die Lust am Streit begleitet uns Juden quer durch unsere Geschichte.
Ideal Und doch ist dieser Zustand keineswegs natürlich oder unausweichlich. Ganz im Gegenteil. Denn das von der Tora vorgegebene Ideal ist alles andere als eine innerlich zerrissene, streitlustige jüdische Nation. So betont die Tora in zahlreichen Abschnitten immer wieder die Einheit des jüdischen Volkes, die gemeinsame Aufgabe und die kollektive Verantwortung. Das »Problem« ist nur, dass uns die Tora gleichzeitig solche Ideale lehrt, die uns etwa im Sinne Abrahams, der mit G’tt wegen der drohenden Zerstörung von Sodom und Gomorra verhandelt, ein gesundes Selbstbewusstsein sogar gegenüber G’tt vermitteln.
Außerdem gibt die Tora zwar einen Weg vor, den es zu beschreiten gilt, doch lässt sie, einem religiösen Fundamentalismus quasi vorbeugend, ausreichend Auslegungsspielraum, um diesen Weg in seiner ganzen Breite zu nutzen. Die ersten Anzeichen dessen, was uns Juden im Laufe unserer streitgeschichtlichen Evolution erwarten würde, konnte man bereits erahnen, nachdem das jüdische Volk am Fuß des Berges Sinai die Offenbarung G’ttes und die Verkündung des Zehnworts, der sogenannten Zehn Gebote, erlebte und in einen gegenseitigen Bund mit dem Ewigen eintrat.
Nur 40 Tage später spaltete sich ein (wenn auch kleiner) Teil des Volkes ab, um das Goldene Kalb anzufertigen und damit gegen die ersten verkündeten Gebote zu verstoßen. Die Strafe folgte auf dem Fuße. Und es sollte nicht lange dauern, da deutete sich der nächste größere Konflikt an. Diesmal in Form einer Revolte, die Korach gegen die Führer des Volkes, Mosche und Aharon, anzettelte. Auch diesmal ließ die Reaktion G’ttes nicht lange auf sich warten und traf die Aufrührer. Zwar endeten die offensichtlichen und unmittelbaren g’ttlichen Interventionen, nachdem das jüdische Volk sich religiös und politisch erst einmal im heutigen Israel etabliert hatte; die teils tiefgreifenden Streitigkeiten allerdings zogen sich wie ein roter Faden durch die jüdische Geschichte.
Strömungen Nach der Rückkehr der vertriebenen Juden aus dem babylonischen Exil und der Wiedererrichtung des Jerusalemer Tempels etwa entwickelten sich zwei maßgebliche und grundverschiedene Strömungen des Judentums, die sich unversöhnlich gegenüberstanden: die Sadduzäer und die Pharisäer. Während die Sadduzäer als jüdische Oberschicht die Priester stellten, den Tempelkult betonten und nur die in der geschriebenen Tora niedergelegten Gebote und Konzepte als maßgeblich erachteten, waren die Pharisäer volksnahe Schriftgelehrte, die ein hohes Maß an Bildung sowie die Begabung besaßen, die Tora, die Gesetze und die Gebote auszulegen, zu interpretieren und fortzuentwickeln.
Dabei orientierten sie sich im Gegensatz zu den Sadduzäern nicht nur an der schriftlichen, sondern auch an der mündlichen Tora, von der es heißt, dass sie ebenfalls von G’tt offenbart worden sei, und die von Generation zu Generation weitergetragen wurde. Das Judentum, so wie wir es heute kennen, überlebte nur dank der Kreativität, der Flexibilität und der religiösen Intelligenz der Pharisäer, denen es gelang, das Judentum nach dem Verlust des Zentralheiligtums und ihres Heimatlandes zu revolutionieren und so in eine neue Zukunft zu retten.
Doch die innerjüdischen Kontroversen sollten damit nicht enden: Um das 8. Jahrhundert entwickelte sich eine Gruppe, deren Anhänger als Karaiten oder Karäer bekannt wurden und die der seinerzeit weithin akzeptierten Form des rabbinischen Judentums vehement widersprachen. Gut 1000 Jahre später entstand eine neue heftige Auseinandersetzung zwischen zwei jüdischen Strömungen: den osteuropäischen Chassidim und den Mitnagdim. Doch auch dieser Konflikt sollte sich abschwächen, als eine neue vermeintliche Bedrohung für die toratreuen Juden am Horizont auftauchte.
Höhepunkt Denn schließlich und quasi als bisheriger Höhepunkt entstand neben dem observanten, toratreuen Judentum Anfang des 19. Jahrhunderts das liberale Judentum, das in all seinen zahlreichen Schattierungen zumindest dahingehend Einigkeit erzielt, dass es die Tora nicht als ein dem jüdischen Volk in einem g’ttlichen Offenbarungsakt übermitteltes heiliges Buch anerkennt, sondern zu wissen glaubt, dass viele Autoren aus Fleisch und Blut, die von G’tt inspiriert waren, die biblischen Texte aufgeschrieben und später zusammengestellt haben.
Die Konfliktlinie verläuft seither im Wesentlichen zwischen denjenigen, die die Tora von Anfang bis Ende als das Wort G’ttes verstehen, und denjenigen, die in verschiedenen Varianten von g’ttlich inspirierten Texten ausgehen. Sowohl in der Orthodoxie wie auch im liberalen Judentum gibt es unzählige Variationen jüdischen Lebens. Um sie wird heftig gekämpft, munter gestritten und intensiv gerungen. Sie werden vehement vertreten, heiß diskutiert und leidenschaftlich gelebt. Aber wozu das alles? Wäre es nicht einfacher, wenn jeder Jude einfach so leben könnte, wie es ihm passt?
Auftrag Ja und nein. Denn erstens entsteht allzu oft Streit über die Frage, wer überhaupt Jude ist und wer nicht, und zweitens hat das Judentum zwar den unmissverständlichen Auftrag erhalten, die Welt unter G’ttes Herrschaft zu verbessern und zu perfektionieren. Wie das allerdings im Detail funktionieren soll, ist wiederum umstritten. Deshalb werden Diskussionen darüber, wie wir unserem Auftrag am ehesten gerecht werden, auch künftig nicht ausbleiben.
Und wahrscheinlich hat der Ewige das auch so gewollt, als er seinen Bund mit uns geschlossen und uns die Tora zu treuen Händen gegeben hat. Und falls nicht, dann hat er jetzt daraus gelernt, dass er sich das nächste Mal präziser ausdrücken muss. Bis dahin werden wir Juden weiterhin beharrlich und leidenschaftlich an unserer gemeinsamen Mission arbeiten – in gespaltener Einigkeit.
Der Autor ist Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.