In Paraschat Bamidbar steht, dass die Tora jeden der zwölf Stämme Israels anweist, in seinem eigenen bestimmten Bereich zu lagern und seine Fahne mit eigenem Emblem zu hissen.
Es gibt dazu einen verwirrenden Midrasch, der einen Absatz aus Schir Haschirim, dem Lied der Lieder, zitiert: »Wer ist das, der herabschaut, sich wie die Morgendämmerung erhellt … eindrucksvoll wie eine große Armee von Königen mit wehenden Fahnen?« (6,10).
stämme Als die Völker der Welt sahen, wie die Juden durch die Wildnis wanderten, aufgeteilt in ihre Stämme, da wunderten sie sich: »Wer sind diese Menschen, die so wunderschön mit ihren Fahnen reisen?«
Die Völker waren so beeindruckt, dass sie zum jüdischen Volk sagten: »Ihr seid so wunderschön. Bitte reiht euch bei uns ein. Wenn ihr euch bei uns einreiht, dann werden wir euch zu unseren Anführern machen, unseren Gouverneuren, zu unseren Herrschern. Wir sind so von euch beeindruckt, lasst uns eins werden.«
Der Midrasch erzählt, dass das jüdische Volk antwortete: »Was könnt ihr uns bieten? Könnt ihr uns etwas Besseres bieten, als G’tt uns bereits gegeben hat, nämlich dieses wunderschöne Konzept, in Formation zu reisen, wo jeder Stamm seine eigene Fahne hat?«
MIDRASCH Was will uns dieser Midrasch sagen? Warum waren die Völker dermaßen von den Fahnen beeindruckt? Was ist so einzigartig an einer Gruppe von Menschen, die mit Fahnen reisen? Jedes Volk hat doch eine Fahne. Was war so einmalig schön an den reisenden Formationen, dass es die Völker derart inspirierte?
Wir haben die Vereinten Nationen, wo jedes der 192 Länder seine eigene Fahne hat − aber wie einig sind sich all diese Nationen? (Oft vereinen sie sich ja nur dann, wenn es darum geht, Israel zu verurteilen.) Nationalitäten gehen mit Rivalitäten einher.
Das erinnert mich an eine Geschichte, die sich Ende des 19. Jahrhunderts in New York zugetragen haben soll. William und seine Tante Caroline stritten ständig miteinander. Er war neidisch auf sie wegen ihres sozialen Status. Im Gegensatz zu ihr wurde er als gesellschaftlicher Außenseiter angesehen und nie auf eine jener verschwenderischen Partys eingeladen.
nachbarschaft Dies allein war schon schlimm genug, aber auch noch in direkter Nachbarschaft zu ihr zu wohnen, war William einfach unerträglich. Das Vorfahren der Gäste in den eleganten Kutschen ließ ihn vor Wut kochen. Doch er konnte nichts dagegen tun.
Erst als das Vermögen der Familie unter den Familienmitgliedern aufgeteilt wurde und er 100 Millionen Dollar erhielt, wusste er, was er tun würde. Er beschloss, seine Villa niederzureißen, und ließ stattdessen eine Monstrosität errichten. Sie hatte 530 Zimmer, 350 Bäder und eine kolossale Anzahl von 970 Hausangestellten. Es sollte das größte und eleganteste Gästehaus seiner Art sein. Es kamen bei ihm nun jeden Tag mehr Kutschen an als bei seiner Tante in einem Monat. William hatte sein Ziel erreicht.
Die Tante zog in den Norden, weit weg, aus dem Schatten von Williams Hotel. Auch sie ließ ihr altes Zuhause niederreißen. Mit den nur 50 Millionen Dollar, die ihr zugeteilt worden waren, wollte auch sie ein Hotel auf diesem Grundstück errichten. Es sollte noch eleganter werden, mit schöneren Zimmern und einem besseren Service als im Haus ihres Neffen.
feindschaft Es wären also zwei benachbarte, konkurrierende Hotels entstanden − wenn nicht der Manager von Williams Hotel so weise gewesen wäre: Er schaffte es, die beiden verfeindeten Verwandten zusammenzubringen, und erklärte, dass Feindschaft nicht zum Erfolg führt.
»Wenn Sie beide doch nur zusammenarbeiten könnten und beide Hotels zu einem zusammenführen würden, dann könnte dies die hervorragendste Unterkunft auf Erden werden«, sagte er.
Sie hörten auf ihn und folgten seinem Rat. Trotz einiger Differenzen beschlossen William Waldorf und seine Tante Caroline Astor, das Kriegsbeil zu begraben − und es durch einen Bindestrich zu ersetzen. So entstand die weltweit bekannteste Luxus-Unterkunft der Welt: das Waldorf-Astoria-Hotel.
Feldlager Die Völker der Welt waren nicht davon beeindruckt, dass jeder Stamm des jüdischen Volkes eine eigene Fahne hatte. Das war nichts Besonderes. Einzigartig aber war, dass trotz der zwölf Fahnen eine gewisse Einheit vorhanden war, die das gesamte Feldlager in der Wildnis durchdrang.
Die Völker hätten die Fahnen kopieren können. Sie konnten aber nicht den Frieden und die Einheit kopieren, die trotz der verschiedenen Fahnen im Volk Israel existierten. Es gelang ihnen nicht, auch nur eine Fahne zu kopieren, die ohne Chauvinismus auskam.
Worin lag das Geheimnis dieser Art von Fahnen? Die Antwort findet man im Buch Tehillim, den Psalmen: »Mögen wir vor Freude singen, zu Deiner Erlösung, und unsere Fahnen im Namen unseres G’ttes hissen« (20,6).
Der Name G’ttes ist die ultimative »Fahne«, der alle salutieren – der Fahne G’ttes. Alle zwölf Fahnen wissen es zu schätzen, dass sie in der Tat ein Spiegelbild des G’ttlichen sind, aber der unendliche G’tt drückt Sich auch auf vielerlei andere Weise aus. Ich feiere meine Fahne − aber wenn mir bewusst wird, dass meine Fahne ein Teil der g’ttlichen Fahne ist, dann ehre ich auch deine Fahne.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.
inhalt
Am Anfang des Wochenabschnitts Bamidbar steht die Zählung aller wehrfähigen Männer, mit Ausnahme der Leviten. Sie sind vom Militärdienst befreit und nehmen die Stelle der Erstgeborenen Israels ein. Ihnen wird der Dienst im Stiftszelt übertragen. Bei ihnen soll von nun an jeder Erstgeborene ausgelöst werden. Zudem wird geregelt, welche Familien für den Auf- und Abbau des Stiftszelts verantwortlich sind.
4. Buch Mose 1,1 – 4,20