Nach den Aseret Hadibrot, den Zehn Geboten, im vergangenen Wochenabschnitt folgt nun in Paraschat Mischpatim eine Auflistung von ganz konkreten Gesetzen. Einige behandeln seltene Themen wie Hexerei und Magie. Die meisten jedoch enthalten Aussagen zum Zivil- und Strafrecht und reichen vom Recht auf körperliche Unversehrtheit über den Schutz des Eigentums bis hin zur Forderung nach Unparteilichkeit im Gericht und der Integrität von Zeugen und Richtern.
Ähnlichkeiten mit älteren orientalischen Rechtskodizes wie dem Codex Hammurabi fallen bereits auf den ersten Blick auf, während sich der deutlich humanere, oft sehr fortschrittliche Charakter des israelitischen Gesetzes teils erst bei genauerer Betrachtung erschließt.
So bedeutet Ajin tachat Ajin eben nicht »Auge um Auge« im Sinne einer körperlichen Vergeltung, im Gegensatz zum entsprechenden Passus im Gesetzbuch des Hammurabi, sondern beschreibt eine angemessene finanzielle Entschädigung.
Schadenersatz Genauer führt dies der Babylonische Talmud in Baba Kamma 83b aus mit der Auflistung der Zahlungen, die der Schuldige in einem solchen Fall zu leisten hat, nämlich Schadenersatz, Schmerzensgeld, Arzt- und Heilmittelkosten, Verdienstausfall und Beschämungsgeld, Letzteres als eine Art psychischer Wiedergutmachung.
Auch finden wir den Unterschied zwischen Mord und Totschlag beschrieben und wie Selbstjustiz oder gar Blutrache durch eine geordnete Rechtsprechung zu vermeiden sind.
Dass ein »stößiger Ochse« zu steinigen sei, hat ebenfalls nichts mit Primitivität zu tun, sondern eher damit, dass die damalige Zeit keine geeigneten Feuerwaffen oder gar Betäubungsgewehre zur Verfügung hatte. Wer jemals versucht hat, sich eines rabiaten Hornviehs zu erwehren, kann bestätigen, dass dafür ein ausreichender Sicherheitsabstand vonnöten ist.
Manche der in Mischpatim aufgeführten Gesetze entsprechen wiederum dem sozialen Verständnis der damaligen Zeit, zum Beispiel die Abschnitte, welche die Sklaverei betreffen. Andere dagegen sind zeitlos gültig, wie die Schuldfrage beim Ausbruch von Bränden.
Unter all diesen Gesetzen fällt eines besonders auf, im Hebräischen ein Satz aus nur drei Wörtern, ohne weitere Erläuterung: »Mechaschefa lo techaje« – eine Zauberin sollst du nicht leben lassen (2. Buch Mose 22,17).
Was bedeutet das? Etliche Kommentatoren sind der Meinung, damit werde klar die Hinrichtung von Hexen gefordert. Manche setzen sogar noch hinzu, es heiße hier Zauberin, weil »Hexerei bei Frauen viel häufiger vorkomme als bei Männern«.
Andere verstehen den hier gewählten femininen Ausdruck durchaus als geschlechtsneutral und verweisen auf 5. Buch Mose 18,10, wo das Verbot in der maskulinen Form steht.
Aber auch, wenn wir den Satz umformulieren, etwa zu »Personen, die Magie praktizieren, sollen nicht am Leben gelassen werden«, bleibt eine gewisse Ratlosigkeit. Was ist Magie? Was genau soll mit einer solchen Person geschehen, und vor allem: warum?
Wenn wir den Textzusammenhang betrachten, in dem dieser Satz steht, finden wir ihn eingebettet zwischen Vorschriften zur Verhinderung von unerwünschten sexuellen Kontakten junger Mädchen und dem Verbot von Sodomie. Das hilft uns zum Verständnis nicht viel weiter; eine sexuelle Konnotation besteht wohl eher nicht.
Auch ein Bezug zu anderen in Mischpatim genannten Vergehen, welche die Todesstrafe nach sich ziehen, ist nicht unmittelbar gegeben, heißt es doch hier eindeutig »lo techaje« (soll nicht am Leben bleiben) und nicht »mot jumat« (soll sterben, soll getötet werden), wie etwa im Fall des Sodomiten.
Der Ausdruck erinnert eher an das Verbot des Zinswuchers (2. Buch Mose 22,24), was nach talmudischem Recht nicht nur den Geldverleiher, sondern auch den Darlehensnehmer betrifft. Demnach sollte man unseriöse Machenschaften nicht unterstützen, indem man Wucherer, oder eben Zauberer, für ihre Tätigkeit bezahlt. Das heißt, man entzieht ihnen einfach den Lebensunterhalt aus diesem Gewerbe. Eine moderne Übersetzung lautet vielleicht deswegen relativ milde, man solle eine Zauberin »nicht tolerieren«.
antike Was ist aber nun so verwerflich an der Zauberei, dass man ihr Einhalt gebieten müsste? Der ehemalige britische Oberrabbiner Joseph Hertz (1913–1946) kommentiert hierzu: »Das Hexenwesen in der Antike war aufs Innigste mit Verbrechen, Unmoral und Betrugsunwesen versippt«, womit er die Tätigkeit von Zauberern in den Bereich der Scharlatanerie stellt.
Ganz anders sieht es noch der Verfasser des Sefer Hachinuch im 13. Jahrhundert, wenn er darlegt, dass eine Person, die Magie betreibt, sich gegen die vom Ewigen gesetzte, als vollkommen zu betrachtende Ordnung vergeht, indem sie in die Schöpfung eingreift und das natürliche Gefüge von Dingen verändert. Die Zauberei wirke zerstörerisch und bringe nur Unheil, deshalb müsse man diejenigen ausmerzen, die sie praktizieren.
Diese Auffassung stützt sich auf das Talmudtraktat Sanhedrin 67b, in dem der damalige Glaube an eine reale Wirkung von Hexerei zum Ausdruck kommt. Allerdings spricht dieselbe Textstelle auch von Illusionisten im Rang von Jahrmarktszauberern, die völlig harmlos gewesen seien.
Aberglaube Gleichzeitig zeigt uns dieses Traktat, dass auch Fromme nicht frei von Aberglauben sind. Während Rav Chanina postuliert, einem rechtschaffenen Menschen könne Magie nichts anhaben, da er ja unter dem Schutz des Ewigen stehe, sind sich andere da nicht so sicher. Rabbi Jochanan rät jedenfalls zur Vorsicht.
Spätere Kommentatoren wie Abraham Ibn Esra (1089–1167) stellen schließlich jegliche Realität von Hexerei in Abrede. Erst recht wären die Hexenverbrennungen in Mittelalter und Neuzeit unter jüdischer Jurisdiktion praktisch unmöglich gewesen, wie Hertz dazu treffend bemerkt, allein schon durch den Grundsatz im talmudischen Strafrecht, wonach sich niemand selbst eines Verbrechens bezichtigen kann. Die zum Todesurteil führenden Geständnisse wurden jedoch unter Anwendung von Folter erzwungen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Menschlichkeit aber muss, zusammen mit Gerechtigkeit, im Mittelpunkt des jüdischen Rechts stehen, wie uns Mischpatim zeigt.
Die Autorin ist Rabbinerin der Liberalen Jüdischen Gemeinde Mischkan ha-Tfila Bamberg und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).
inhalt
Der Wochenabschnitt Mischpatim wird auch als Buch des Bundes bezeichnet. Hier geht es um Gesetze, die das Zusammenleben regeln. Der zweite Teil besteht aus Regelungen zur Körperverletzung, daran schließen sich Gesetze zum Eigentum an. Den Abschluss der Parascha bildet die Bestätigung des Bundes. Am Ende steigen Mosche, Aharon, Nadav, Avihu und die 70 Ältesten Israels auf den Berg, um den Ewigen zu sehen.
2. Buch Mose 21,1 – 24,18