Erzählung

»Eingeschrieben ins Buch des Lebens«

Im Jahre 1931, als die Welt in Polen noch eine jüdische war, lenkte Mendel Soyfer am Vorabend des Jom Kippur seine Schritte im Strom der Gläubigen zur Tempel-Synagoge in der Miodowa Straße in Krakau. Die Menschen hielten Abstand zu ihm, denn er schwankte und stank fürchterlich nach Alkohol. Nicht wenige schüttelten bei seinem Anblick den Kopf. Wie konnte man zum höchsten Gottesdienst des Jahres nur betrunken in die Synagoge gehen, fragten sie sich und blickten mit Verachtung auf ihn.

Mendel Soyfer war ein einfacher Mann, ein Bäckergehilfe, der der vielen Arbeit wegen nie Zeit zum Lernen des Talmuds gefunden hatte. Mit bald dreißig war er noch unverheiratet. Wer hätte ihm schon seine Tochter zur Frau geben sollen?

Während des Gottesdienstes geschah denn auch, was geschehen musste. Mendel Soyfer schlief ein und fiel um. Wütend legten die Männer ihn in eine Ecke ganz hinten im riesigen Gotteshaus, damit er nicht weiter die Gebete störe.

drosche Der Gottesdienst neigte sich dem Ende zu. Der Rabbiner schritt zur Kanzel, um die Drosche zu halten. Da ging knarrend die Eingangstür der Synagoge auf. Die Leute drehten sich um und erkannten staunend den Oberrabbiner von Krakau, Raw Yosef Nechemia Kornitzer, Sohn des Rabbi Akiwa Kornitzer, Enkel des in seiner Weisheit unerreichten Chatam Sofer.

Wie konnte man zum höchsten Gottesdienst betrunken in die Synagoge gehen?

Was wollte der große Gelehrte hier in der Tempel-Synagoge, wo die Menschen Hüte und Jarmulkes trugen statt Streml und Spodek wie in Kornitzers Synagoge der Frömmsten der Frommen in der Szerokastraße? Warum hatte er sie ausgerechnet am heiligsten Abend des Jahres mitten im Gebet verlassen, um hierherzukommen, wo man ihn sonst nur an Hochzeiten und bei Bris Miles sah?

Ehre Kornitzer, in Begleitung seines Sekretärs Raw Chajim Scharf, eines fast ebenso großen Talmud Chochem wie er selbst, bat den Rabbiner der Gemeinde, der zur Begrüßung der hohen Gäste zur Tür gekommen war, heute ausnahmsweise die Drosche an seiner statt halten zu dürfen. Selbstverständlich willigte der Rabbiner ein. Die Ehre hätte nicht größer sein können.

Leichtfüßig stieg Kornitzer die schmale, gewundene Eisentreppe zur Kanzel hinauf. Alle Blicke begleiteten ihn. Es wurde so still im Gotteshaus, dass man den Wind hätte rauschen hören, hätte er geweht. Kornitzer war von hoher Gestalt. Sein ehrwürdiger Bart ließ sein wahres Alter nicht erkennen. Er sah in die Runde und begann nach einer Ewigkeit, so leise zu sprechen, dass jeder Mann und auch jede Frau oben auf der Empore sich anstrengen musste, ihn zu hören. Gerade deswegen aber verstanden ihn alle. Jedes seiner Worte war wie eine Perle der Tora. Nach Betrachtungen über den Sinn von Jom Kippur, die trefflicher nicht hätten sein können, kam Kornitzer auf den Grund seines Besuchs zu sprechen.

»Vielleicht kennen einige von Ihnen den Schankwirt am Centralnyplatz«, sagte er und fuhr nach einer kurzen Pause fort: »Ein grober Goj, werdet ihr denken, ein Christ, der nichts von der himmlischen Schöpfung und vom Ewigen weiß. Und doch sage ich euch, er ist ein anständiger Mann, der sich für Gerechtigkeit einsetzt und keinen Antisemitismus duldet. So mancher Jude könnte von ihm lernen. Er kam kurz vor Beginn von Jom Kippur zu mir und erzählte mir eine wundersame Geschichte.

Zwei Stunden zuvor war ein Jude zu ihm in die Schankstube gekommen, um sich, wie er es jedes Jahr vor Kippur tut, mit einem Schnaps fürs Fasten zu stärken. Er traf auf eine Gruppe von Studenten aus reichen christlichen Häusern, die sich einen Spaß daraus machten, sich über den Juden lustig zu machen. Sie verspotteten ihn in übelster antisemitischer Weise. Leider kam der Schankwirt selbst erst herein, als die Sache schon fast beendet war, und konnte sie nicht unterbinden. Die Studenten hatten dem armen Juden 1000 Zloty geboten, wenn er drei Flaschen Wodka trank und vor ihnen tanzte.

Mitzwe Sie werden einwenden, dass das eines Juden unwürdig ist und er es niemals hätte machen dürfen. Ich aber sage euch, es war die größte Mitzwe, die es dieses Jahr in Krakau gab. Denn der Jude, betrunken wie er war, behielt die 1000 Zloty nicht etwa für sich, obwohl er sie mehr als dringend benötigt hätte. Er lief damit zu seiner Nachbarin, einer Christin, und gab sie ihr. Ihr sechsjähriger Sohn war dem Tod geweiht, weil ihr kein Verwandter das Geld für die lebensrettende Operation leihen wollte. Er hat das oberste Gebot des Judentums erfüllt – Pikuach Nefesch – und damit die ganze Welt gerettet, denn wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt, wie der Talmud sagt.

Dieser Mann ist heute unter euch. Seinetwegen bin ich hergekommen. Sein Name ist Mendel Soyfer. Er muss vom vielen Wodka immer noch schwer betrunken sein. Weiß jemand, wo er ist?«

Er hat das oberste Gebot des Judentums erfüllt – Pikuach Nefesch – und damit die Welt gerettet.

Die Menschen in der Synagoge trauten ihren Ohren nicht. Rasch liefen ein paar zu dem Mann hin, der hinten in einer Ecke lag und schlief. Sie weckten ihn, halfen ihm auf und brachten ihn nach vorne. Er torkelte, sah nur verschwommen aus glasigen Augen, was um ihn herum geschah, und konnte sich kaum auf den Beinen halten.

garten eden Doch niemand mehr verachtete ihn, niemand mehr wollte Abstand zu ihm halten, wie sie es beim Gang in die Synagoge getan hatten. Es kam ihnen sogar vor, als würde er nicht mehr stinken, sondern den köstlichsten Duft aus dem Garten Eden verbreiten. Die Männer betrachteten ihn mit Ehrfurcht und die Frauen mit den Augen künftiger Schwiegermütter.

Der Rest ist rasch erzählt. Der christliche Knabe wurde operiert und genas, Mendel Soyfer bekam die Tochter des Rabbiners zur Frau. Sie schenkte ihm fünf Kinder. Der Rabbiner selbst unterrichtete ihn in Tora und Talmud. Er wurde ein Gelehrter, den alle achteten. Das Glück aber dauerte nur acht Jahre. Denn dann kam das Jahr 1939. Doch davon will ich lieber nicht erzählen.

Alexander Günsberg: »Jüdische Feiertagsgeschichten«. Mit Illustrationen von Astrid Saalmann. Aber, Zürich 2020, 223 S.,
29,90 €

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