Wieder einmal gibt es einen heftigen Disput zwischen Israel und der Diaspora um religiöse Grundsatzfragen. Im Mittelpunkt steht ein Gesetz, das von der israelischen Partei Israel Beitenu eingebracht wurde. Konkret geht es um die Einlösung eines Wahlversprechens an etwa 300.000 russischsprachige Zuwanderer, die nach halachischer Sicht nicht als Juden an-
erkannt werden. Im Sinne des Rückkehrgesetzes durften sie nach Israel einwandern, weil sie Vorfahren jüdischer Herkunft haben. Doch diesen Status erkennt das Oberrabbinat nicht an. Nun leben sie mittlerweile seit Jahren in Israel, zahlen Steuern, gehen wählen, schicken ihre Kinder zur Armee. Doch sollte ihnen zum Beispiel bei einem Militäreinsatz etwas zustoßen, würden sie noch nicht einmal auf einem jüdischen Friedhof beigesetzt werden.
Fraglich ist, ob die Mehrheit dieser doch jüdischen Einwanderer willens ist, mit einem formellen Übertritt zum Judentum die Statusfrage zu klären, denn sie fühlen sich zu Recht als Juden. Gleichwohl wird seit Langem eine Lösung gesucht. Und die könnte das Gesetz – zumindest auf den ersten Blick – bieten, denn es sieht vor, die Entscheidung des Übertritts den lokalen Rabbinern in Israel zuzuordnen. Im Verlauf des Gesetzgebungsprozesses jedoch hat sich dieser Ansatz gewandelt und nun dem Oberrabbinat eine nie dagewesene Fülle an Möglichkeiten der Intervention eingeräumt – Konversion als ultraorthodoxes Monopol.
Einheit Die nichtorthodoxen Rabbinerkonferenzen und religiösen Organisationen der USA, die die überwältigende Mehrheit der Juden vertreten, führen gegen die restriktive Politik in Israel seit Langem einen Kampf, sind nun aber durch diese neue Initiative geschockt. Rabbiner Shlomo Moshe Amar, der orthodox-sefardische Oberrabbiner Israels, schreibt in einem Leserbrief an die New York Times, die Klageführenden hätten nichts zu befürchten, vielmehr würden die russischen Einwanderer mit jüdischen Statusproblemen von dieser Gesetzesinitiative profitieren. Hingegen wird Rivkah Lubitch, eine altfromme Rechtsanwältin in Israels rabbinischem Gerichtssystem, im gleichen Blatt mit den Worten zitiert: »Auch wenn man nicht heiraten will, nicht zu einem rabbinischen Gerichtshof geht – ganz Israel wird jetzt unterstellt, nichtjüdisch zu sein, es sei denn, man könnte das Gegenteil beweisen.«
Die Publizistin Alana Newhouse stellt ebenfalls in der New York Times richtigerweise fest, dass gegen das Gesetz nicht nur die progressiven Rabbiner protestieren sollten, denn auch die Zahl der altfrommen Rabbiner in den USA, deren Konversionen in Israel anerkannt werden, beträgt nur wenige Dutzend. Dass die israelische Regierung das Gesetz zunächst noch länger im Gesetzgebungsverfahren lässt, geht nach Aussage von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu mit dem Versuch einher, »die Einheit des jüdischen Volkes zu wahren«.
Diaspora Was könnte das Gesetz für die Diaspora bedeuten? Womöglich wäre die Mehrheit der Juden Israels keine Juden mehr. Die Diaspora kann das aushalten, denn sie hat auch zwei Jahrtausende ohne Israel überlebt. Ob Israel eine Abkehr von seinem Gründungsanspruch, eine Heimstatt für alle Juden zu sein, dauerhaft ohne Aufgabe seiner Eigenidentität überstehen würde, kann hingegen füglich bezweifelt werden. Nicht umsonst hat das von Shlomo Sand, einem Professor an der Hebräischen Universität Jerusalem, verfasste Buch Die Erfindung des jüdischen Volkes in Israel eine heftige Kontroverse ausgelöst. Denn darin wird die These aufgestellt, dass die wenigsten Juden, wenn überhaupt noch welche, faktisch von Abraham abstammen. Vielmehr sei die seit dem babylonischen Exil konstituierte Diaspora durch Konversionen, ja sogar durch jüdische Missionstätigkeit zum Judentum gekommen. Die von den Rabbinern festgelegte Definition, Jude ist, wer durch Bekenntnis zum Judentum sich von einem Rabbinatsgericht aufnehmen ließ oder Kind einer jüdischen Mutter ist, war damals pragmatisch. Es war wohl auch nötig, weil die frühen christlichen Gemeinden sich als »wahres Israel« bezeichneten und es also schnell unklar zu werden drohte, wer hierhin oder dorthin gehörte.
Heute könnte man ohne Schwierigkeiten auch den Sohn eines jüdischen Vaters bestätigen, ja in großen Teilen der jüdischen Gemeinden in den USA wird dies ganz selbstverständlich im Rahmen egalitärer Überlegungen getan. Die altfrommen Rabbiner sollten sich einen Stoß geben – statt über ein neues restriktives Gesetz nachzudenken. Sie sollten ernsthaft in Betracht ziehen, die Halacha den Möglichkeiten der Zeit anzupassen, um jeden als Juden anzuerkennen, der dies zum Beispiel per Gentest belegen kann. Und sie sollten in der Frage der Anerkennung rabbinischer Autoritäten mit den großen jüdischen Organisationen Standards festlegen. Wir haben in der Schoa genug Menschen verloren, es kann in Gegenwart und Zukunft nur noch darum gehen, Menschen im Judentum zu.
Der Autor ist Rabbiner der Synagoge Hüttenweg der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.