Pro & Contra

Eine orthodoxe Stimme ins Präsidium?

Sollen es neben einem liberalen auch ein orthodoxes Mitglied geben? Foto: Getty Images

PRO

Manfred de Vries: »Das Gleichgewicht im jüdisch-christlichen Dialog muss hergestellt werden.«

Der christlich-jüdische Dialog hat es in Deutschland nie leicht gehabt. Ein Forum für den Dialog wurde in der Bundesrepublik nach Krieg und Schoa von den Amerikanern initiiert – nicht von den Kirchen. Das hat den Vorteil, dass sich dieses Forum in den örtlichen Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit relativ unabhängig gestaltet; sowohl für Theologen als auch – und gerade – für Laien. Auf Bundesebene sind im Präsidium des Dachverbands, dem Deutschen Koordinierungsrat (DKR), evangelische wie katholische Christen vertreten. Sie werden nicht von ihren Kirchen entsandt, sondern von einem Gremium aus Vertretern der Gesellschaften gewählt.

Dieses Gremium wählt auch einen jüdischen Präsidenten. Dieses Verfahren ist nicht nur unabhängig von den Kirchen auf christlicher Seite. Es spiegelt die Situation auf jüdischer Seite mit dem gut funktionierenden Modell der Einheitsgemeinden wider. Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, dass katholische und evangelische Christen im Präsidium vertreten sind. Dazu hat eine jüdische Stimme für alle Strömungen gereicht – bisher.

Die GcjZ Wetterau, zu der ich als Vorstand gehöre, hat bereits im vergangenen Jahr den Antrag gestellt, dass künftig zwei jüdische Vertreter zum Präsidium gehören, um ein Gleichgewicht herzustellen. Daraus ergibt sich die Chance, dass die verschiedenen Richtungen des Judentums berücksichtigt werden. Mittlerweile ist die Dialogfähigkeit der Orthodoxie so weit gestiegen, dass die DKR ihr eine Stimme geben sollte. Die Prioritäten, bezogen auf das gelebte Judentum, sind anders und sollten in den DKR-Entscheidungen Berücksichtigung finden. Um diese Schieflage auszugleichen, bedarf es eines Sitzes und der Stimme des traditionellen Judentums im Präsidium des DKR; selbstverständlich zusätzlich neben dem Reformjudentum. Das jetzige Modell ist reformbedürftig wegen des wachsenden Einflusses einer Richtung, die die Orthodoxie außen vor lässt.

Der jüdische Repräsentant wurde bis heute von der liberalen Seite des Judentums gestellt. Der zweite jüdische Repräsentant sollte deshalb aus der ORD (Orthodoxe Rabbinerkonferenz Deutschland) gewählt werden. Somit hätten beide Seiten ein Sprachrohr. Wenn der jüdische liberale Repräsentant dem christlichen Gedanken nähersteht als dem ORD-Rabbiner, ist die Entscheidungsfindung in der heutigen DKR-Konstellation einfacher, und es herrscht Harmonie. Aber wer sagt, dass es nur »Friede, Freude, Eierkuchen« geben sollte? Wir gehören unterschiedlichen Religionen an. Und das ist gut so. Es sollte ein Dialog auf Augenhöhe mit Respekt für Unterschiede sein. Genau das wurde in den vergangenen Jahren vernachlässigt und wäre eine wichtige Aufgabe des neuen ORD-Vertreters. Sind orthodoxe Rabbiner hier nicht dialogfähig? Das stimmt längst nicht mehr.

Die Kirche hat ihre Lehren deutlich geändert. Judenmission gibt es nicht mehr. Somit sind viele Tabus für den interreligiösen Dialog zwischen Orthodoxie und Kirche bereinigt. Auch Rabbiner der orthodoxeren Einheitsgemeinden haben sich der Gemeinde anpassen müssen. Somit sind Kompromisse für die meisten ORD-Rabbiner kein Fremdwort. Wenn dem so ist, dürfte auch ein ORD-Repräsentant im DKR nicht stören. Selbstverständlich gibt es weiterhin für ORD-Rabbiner rote Linien, die nicht überschritten werden dürfen.

Ein Beispiel gerade für den DKR ist, dass die christliche Seite von der jüdischen Seite keine Gebete unter einem Kreuz fordern darf. Im Mittelalter wurden Juden von der Kirche dazu gezwungen, und manche, die sich widersetzten, wurden durch die Kirche ermordet. Deshalb bedarf es seitens der christlichen Repräsentanten mehr nötiges Fingerspitzengefühl. Wenn nicht, hätten wir im DKR einen Rabbiner der ORD, der das einfordern würde.

Alternativ könnte ich mir auch vorstellen, wie zurzeit im israelischen Parlament, dass zwei Jahre ein Rabbiner aus der liberalen Allgemeinen Rabbinerkonferenz im Koordinierungsrat arbeitet und die nächsten zwei Jahre ein ORD-Rabbiner. Somit kämen beide Gruppierungen zum intensiven Dialog, ohne dass der Koordinierungsrat umgebaut werden müsste.

Der interreligiöse Dialog kann nur dann erfolgreich sein, wenn die Basiselemente einer jeden Religion nicht infrage gestellt werden – auch nicht die unterschiedlichen Strömungen des Judentums. Er sollte Hilfestellung für die Probleme der Gegenwart in den Vordergrund stellen und jegliche internen Grabenkämpfe ausschließen. Der DKR war immer auch eine Instanz gegen Antisemitismus sowie für die Erinnerungskultur bezüglich der Schoa und sollte das auch zukünftig sein. Die eigentliche Arbeit wird vor Ort in den mehr als 50 christlich-jüdischen Gesellschaften durchgeführt. Es gibt auch Gesellschaften ohne jüdische Vorstände. Trotzdem ist hier hervorragende Arbeit geleistet worden. Der DKR setzt den Rahmen, der die Orthodoxie nicht ausschließen darf.

Manfred de Vriesist Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Bad Nauheim (Wetterau und Usinger Land).


CONTRA:

Petra Kunik: »Wir sind eins im Judentum.«

Der Vorstand des Deutschen Koordinierungsrates für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit setzt sich aus einem dreiköpfigen Präsidium (jüdisch, evangelisch, katholisch) und dem erweiterten Vorstand zusammen. Die Wahlen ins Präsidium und in den erweiterten Vorstand sind Personenwahlen und werden alle drei Jahre von der Mitgliederversammlung durchgeführt. Die Kandidatinnen und Kandidaten werden nicht von der katholischen oder evangelischen Kirche oder von einer der beiden Rabbinerkonferenzen vorgegeben.

Auch der erweiterte Vorstand wird alle drei Jahre von der Mitgliederversammlung gewählt, ohne Frage nach Religionszugehörigkeit. Jeder kann kandidieren. Voraussetzungen sind starkes Engagement im christlich-jüdischen Dialog sowie im Kampf gegen Antisemitismus und Rechtsradikalismus. Von zehn Vorstandsmitgliedern im erweiterten Vorstand haben wir zurzeit zwei jüdische Mitglieder: Rabbiner Jehoschua Ahrens und Abi Pitum. Und bei der nächsten Wahl könnten gerne mehr gewählt werden.

Die neue Intention einiger Gesellschaften, die Satzung zu ändern, um zwei jüdische Vertreter in das Präsidium zu wählen, ist mir, der jüdischen Vorsitzenden der Frankfurter Gesellschaft, unverständlich. Wir haben heute zwei Rabbinerkonferenzen in Deutschland, die (liberale) Allgemeine und die Orthodoxe Rabbinerkonferenz. Schon die Forderung nach orthodoxen und nach liberalen Juden widerspricht der Personenwahl!

Die Argumentation, nur eine jüdische Vertretung gegenüber einer evangelischen und einer katholischen Präsidiumsvertretung sei unausgeglichen, lässt mich kopfschüttelnd zurück.

Da fehlt doch der Blick dafür, wer wir Jüdinnen und Juden sind: Wir Juden sind eins im Judentum. Wir rund 95.000 Mitglieder der jüdischen Gemeinden in Deutschland, mit pluralen religiösen Ausrichtungen, werden in einer Organisation vertreten. Der Zentralrat der Juden in Deutschland ist eine eigenständige Körperschaft des öffentlichen Rechts, die aktuell 105 jüdische Gemeinden in Deutschland vertritt. Nach seinem Selbstverständnis ist der Zentralrat für alle Richtungen innerhalb des Judentums offen. Zu den Aufgaben des Zentralrats gehört der Aufbau einer jüdischen Gemeinschaft in Deutschland.

Weiter ist der Zentralrat der Juden als bundesweiter Dachverband organisiert, mit einem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, seit 2014 Josef Schuster. Warum ich auf eine christliche Zweistimmigkeit, eine evangelische und eine katholische, im Präsidium des Koordinierungsrats der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit baue, will ich an zwei verletzenden Ereignissen herausgreifen.

2008 hatte der damalige Papst die Karfreitagsfürbitte für die Juden im lateinischen Ritus wieder eingeführt mit der Bitte, »dass die Herzen der Juden erleuchtet werden, damit sie Jesus Christus erkennen«. Die meisten angefragten Rabbiner hatten ihre Teilnahme am Katholikentag abgesagt, das verweist auf die Dringlichkeit des jüdisch-katholischen Dialogs. 1997 warf das Reformationsjahr für uns Juden im Dialog die Frage auf, wie die Evangelische Kirche in Deutschland mit den judenfeindlichen Schriften Martin Luthers umgehen wird. Nicht zuletzt der jüdisch-evangelische Meinungsaustausch förderte die selbstkritische Auseinandersetzung mit den judenfeindlichen Schriften Martin Luthers.

Ich möchte kurz an Josef Schusters Rede zum 70. Jahrestag des Koordinierungsrates der GCJZ erinnern: »Doch wie es in den besten Familien vorkommt – erst recht, wenn die Verwandtschaft zu Besuch ist –, gibt es schon mal dicke Luft. Es braucht dann ein paar Familienmitglieder, die ausgleichen können. Denn dann setzen sich zum Schluss alle wieder an einen Tisch. Das ist für mich der christlich-jüdische Dialog.«

Die katholische Kirche mit 22,6 Millionen Mitgliedern und die evangelische Kirche mit 20,7 Millionen sind zwei unabhängige Organisationen, und jede handelt für sich selbstständig, nicht nur gegenüber dem Staat. Die Statistik von 2019 umfasst in Deutschland 27,2 Prozent Katholiken und 24,9 Prozent evangelische Christen. Wir 0,12 Prozent Juden in Deutschland sind eine kleine, zu schützende Minderheit und lassen uns nicht durch den Blick von Außenstehenden auch noch »entzweien« in orthodox und liberal.

Ich verstehe nicht, warum die Satzung im Deutschen Koordinierungsrat mit über 80 Gesellschaften geändert werden soll. Die Zusammensetzung mit einer jüdischen, katholischen und evangelischen Vertretung im Präsidium hat sich bewährt. Konzentrieren wir uns lieber gemeinsam auf die drängende Aufgabe, gegen Judenhetze, Judenhass und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zu kämpfen!

Petra Kunik ist erste und jüdische Vorsitzende der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Frankfurt am Main e.V. und Mitglied der Jüdischen Gemeinde Frankfurt.

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