Herr Rabbiner, der Leipziger Theologe Alexander Deeg sieht in der Corona-Krise auch die Chance, sich bei den vielen digitalen Angeboten jetzt intensiver mit anderen Religionen zu beschäftigen. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Das entspricht nicht meiner persönlichen Erfahrung. Junge Leute sehen sich Streamings nur zwei Minuten lang an und zappen dann weiter. Obwohl auch ich mit meinen Kollegen vom »House of One« eine kleine Andacht ins Netz gestellt habe, muss ich sagen, dass diese Internet-Angebote wenig mit dem zu tun haben, was in einer Synagoge, einer Kirche oder Moschee passiert.
Es gibt verschiedene Live-Gebetsaktionen im Netz. Was halten Sie davon?
Ich selbst habe für meine Gemeinde meine Predigt für Schabbat nicht nur verschickt, sondern diese auch gehalten. Ich musste danach erst einmal eine Stunde spazieren gehen, weil das schon eine sehr seltsame Erfahrung ist. Sie stehen vor leeren Bänken und reden, das ist nicht wie im Studio oder bei einer Generalprobe. Die Angebote im Internet können kein Ersatz für gemeinsames Beten, für Liturgie und Interaktion sein. In der Synagoge entsteht etwas, woran das Internet nicht einmal ansatzweise heranreicht.
Ist es dann vergebliche Liebesmühe, so etwas anzubieten?
Nein. Wer glaubt, dass es ihm guttut, der findet etwas darin. Deswegen bieten wir es auch an. Meine Erfahrung aus vielen Jahren ist, dass es Menschen, die krank oder allein sind, sehr schwerfällt, eine befriedigende Situation am Schabbat oder Feiertag mit Kerzenzünden und Kiddusch herzustellen.
Manche sagen: »Wir waren noch nie so isoliert, aber auch noch nie so eng miteinander verbunden.« Haben Sie den Eindruck, dass sich die Menschen jetzt mehr umeinander kümmern?
Ich beobachte immer – und das habe ich auch vor Corona gemacht –, wer in der Synagoge fehlt, rufe die Leute an oder schreibe ihnen eine Mail und frage, was los ist. Und dann kann man entsprechend helfen. Ich kann mit solchen Wendungen wie »Das Gute im Schlechten finden« nichts anfangen. Wir müssen sehen: Es ist eine ganz kritische Situation, in der wir uns, die Gemeinden und jeder Einzelne sich befindet. Dass es da auch neue Netzwerke gibt oder der ein oder andere aktiver ist als in normalen Zeiten, das mag sein. Die Stimmung ist meiner Meinung nach aber sehr schlecht.
Wie kann man sie verbessern?
Wir müssen wirklich sehen, wie wir von Woche zu Woche vorankommen. Am Ende geht es auch darum, dass jeder Einzelne gesund bleibt und dass möglichst wenige Menschen von dieser Welt gehen, weil sie an dem Virus erkranken. Nichts schützt davor außer Händewaschen – und damit sind wir schon hilflos genug.
Mit dem jüdischen Präsidenten des deutschen Koordinierungsrates und Berliner Rabbiner sprach Heide Sobotka.