Manche Menschen glauben, spektakuläre politische Geiselnahmen und hochrangiger Gefangenenaustausch gehörten der Vergangenheit an, und man könne sie nur noch im Kino bestaunen. Doch leider erleben wir auch in der Realität immer wieder derartige Fälle, die Schlagzeilen machen.
Erst Anfang Dezember vergangenen Jahres übergab die amerikanische Regierung den verurteilten russischen Waffenhändler Wiktor But an Russland, um die dort inhaftierte amerikanische Basketballerin Brittney Griner auszulösen. Und Mitte November vergangenen Jahres wurde ein israelisches Ehepaar in der Türkei wegen angeblicher Spionage festgenommen. Auch hier bemühte sich die Regierung um Freilassung ihrer Bürger. Solche Situationen werden wohl auch in Zukunft nicht zu vermeiden sein.
ENTEBBE In der langen jüdischen Geschichte kam es leider sehr oft vor, dass Juden entführt und gefangen genommen wurden, um Geld zu erpressen oder politische Forderungen durchzusetzen. In manchen Fällen wie bei der berühmten »Operation Entebbe« im Jahr 1976 konnten fast alle Geiseln befreit werden.
Manchmal ließen sich jüdische Gefangene, besonders im Mittelalter, durch Zahlung eines Lösegelds wieder befreien. Auch in der jüngsten Geschichte des Staates Israel kam es immer wieder zum Austausch von Gefangenen, wie etwa im Fall des Oberfeldwebels Gilad Schalit, der im Oktober 2011 nach fünfjähriger Gefangenschaft bei der palästinensischen Terrororganisation Hamas in Gaza im Gegenzug für die Freilassung von mehr als 1000 verurteilten palästinensischen Terroristen in sein Heimatland zurückkehren konnte.
Wie aber wird dieses Thema im jüdischen Recht, der Halacha, behandelt? Soll man jüdische Gefangene um jeden Preis befreien? Gibt es dazu Vorgaben oder Überlegungen?
Das Auslösen Gefangener gehört nicht zu den 613 Geboten der Tora, ist aber trotzdem eine Mizwa.
Auch wenn »Pidjon Schwuim« – das »Auslösen von Gefangenen« – keines der 613 Gebote der Tora ist, gilt es trotzdem als eine große Mizwa (Gebot). Im Babylonischen Talmud (Bawa Batra 8b) wird »Pidjon Schwuim« als »Mizwa Rabba« – als »großes Gebot« – bezeichnet. Der Rambam (Rabbi Mosche ben Maimon) erklärt in seinem fundamentalen halachischen Werk Mischne Tora, warum diese Mizwa so immens wichtig ist: Nicht nur leiden die Gefangenen Hunger, Gewalt und Entbehrungen, sie müssen auch noch um ihr Leben bangen.
Außerdem betont der Rambam, dass derjenige, der sich dieser Mizwa nicht widmet, mehrere biblische Verbote übertritt. Der Gesetzeskodex Schulchan Aruch äußert sich diesbezüglich noch schärfer: »In jedem Moment, den man zögert, einen Gefangenen zu befreien, gleicht man selbst einem Mörder« (Jore Dea 252,3).
LÖSEGELD Jedoch verordneten unsere Weisen, dass die Auslösung Gefangener nicht um jeden Preis geschehen sollte. Die Mischna Gittin (45a) verbietet »Pidjon Schwuim«, »wenn es übermäßig teuer« wird. Für diese Verfügung wurden zwei Gründe genannt: erstens, um die jüdische Gemeinde nicht zu überfordern, und zweitens, um die Entführer nicht zu ermutigen, weitere Juden als Geiseln zu nehmen und daraus ein Geschäftsmodell zu entwickeln.
Dabei wird der zweite Grund als Hauptgrund angesehen. Sogar wenn eine Familie oder Gemeinde viel Geld haben sollte und sich das Lösegeld leisten könnte, wäre es trotzdem aus diesem Grund verboten. So entscheiden auch der Rambam (in Mischne Tora, Hilchot Matnot Anijim 8,12) und Rabbi Josef Karo im Schulchan Aruch (Jore Dea 252,4).
Doch wie oft im Judentum ist dies nicht eindeutig geregelt. Im Traktat Gittin (58a) wird diesbezüglich eine spannende Geschichte erzählt: Rabbi Jehoschua ben Chananja habe einen Jungen getroffen, der von den römischen Besatzern gefangen genommen wurde. Rabbi Jehoschua sah, dass der Junge ein großes Potenzial hatte, und kaufte ihn für eine große Summe frei. Das Kind wuchs bei dem großen Weisen und Hohepriester Rabbi Jischmael ben Elischa heran.
Dieser Fall steht eigentlich im Widerspruch zur Verfügung der Weisen, dass das Lösegeld nicht übermäßig hoch sein soll. Deshalb nehmen die Tosafot, ein wichtiger Kommentar zum Talmud, an, dass man in Fällen, in denen für die Geisel Lebensgefahr besteht, auch übermäßig hohes Lösegeld zahlen darf.
Jedoch ist das natürlich nicht die einzige Lesart dieser talmudischen Geschichte. Die Tosafot bieten noch eine andere Erklärung: Rabbi Jehoschua durfte so handeln, weil es um einen potenziellen großen Tora-Weisen ging. Auch der Schulchan Aruch entscheidet sich für diese zweite Erklärung (252,4): »Wenn es um eine Tora-Größe geht oder um einen Tora-Studenten, der sich zum großen Gelehrten entwickeln könnte, darf man auch einen hohen Preis bezahlen.«
GILAD SCHALIT Es ist also mehr oder weniger verständlich, wie man handeln darf, wenn es um Lösegeld für eine Geisel geht. Jedoch bei einem Gefangenentausch wie im Fall von Gilad Schalit ist es viel komplizierter. Welcher Preis ist angemessen, welcher zu hoch oder zu niedrig? Außerdem kommen weitere Überlegungen hinzu, was dieser Austausch für die Zukunft bedeutet: Wenn man einen jüdischen Soldaten für mehrere inhaftierte Terroristen austauschen möchte, so besteht die Gefahr, dass die befreiten Terroristen weitere Anschläge verüben (was schon mehrmals der Fall war) – und dadurch andere Juden ihr Leben verlieren.
Und wie es im Talmud schon impliziert wird: Wer sagt, dass das Leben des gefangenen Soldaten wichtiger ist als das Leben potenzieller Opfer der Anschläge, die von ausgetauschten Terroristen verübt werden? Der Halacha-Experte Dovid Lichtenstein, Gründer der Lightstone Group, zeigt anhand mehrerer Quellen, dass diejenigen, die eine Entscheidung treffen, solche Terroristen freizulassen, sich halachisch gesehen eventuell strafbar machen können, falls es tatsächlich zu neuen Anschlägen und Opfern kommt.
Jedoch muss man auch verstehen, dass im heutigen Israel Entscheidungen über einen Gefangenentausch nicht nur aus halachischen, sondern vor allem aus gesellschaftlichen und politischen Gründen erfolgen.
Wir alle können und sollen dafür beten, dass Juden und Jüdinnen nicht mehr zu Geiseln werden und all diese halachischen Überlegungen damit irrelevant sind!