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Verantwortung

Eine Frage der Rücksicht

Blindheit ist in der Tora weit mehr ist als die Unfähigeit zu sehen

von Rabbiner Yaacov Zinvirt  20.04.2010 12:08 Uhr

»Du sollst dem Blinden kein Hindernis in den Weg legen« (3. Buch Moses 19,14). Foto: dpa

Blindheit ist in der Tora weit mehr ist als die Unfähigeit zu sehen

von Rabbiner Yaacov Zinvirt  20.04.2010 12:08 Uhr

Die Paraschot Acharej Mot und Kedoschim sind die Abschnitte mit den meisten Ge-und Verboten. Und diejenigen, die sie einhalten, werden heilig sein. So steht es im ersten Vers im 3. Buch Moses, Kapitel 19: »Und der Ewige sprach zu Mosche: Sprich zu der ganzen Gemeinde Israels und sage Ihnen: Heilig sollt Ihr sein«.

Ein Großteil der hier beschriebenen Ge- und Verbote bezieht sich auf ethische und moralische Verpflichtungen gegenüber Menschen und der Natur. Dabei ist das Maß sehr hoch gesetzt. So besagt ein Verbot: »Du sollst ... dem Blinden kein Hindernis in den Weg legen, fürchte dich vor deinem G’tt, ich bin der Ewige« (19,14).

Wenn wir zuerst feststellten, dass uns die Tora ein hohes Maß vorlegt und abverlangt und wir versuchen, die Worte zu verstehen, dann stellt sich doch die Frage: Ist es nicht selbstverständlich, darauf zu achten, einem Blinden kein Hindernis in den Weg zu legen? Es ist doch das Mindeste, was man von einem Menschen erwarten kann, dass er sich in so einem Fall rücksichtsvoll verhält. Ist der Maßstab für uns von G’tt so niedrig gesetzt?

fragen Ist es nicht völlig selbstverständlich? Muss man dafür bereits als heilig bezeichnet werden? Ist Heiligkeit so einfach zu erreichen? Weiter folgt aber auch, dass man sich vor G’tt fürchten solle. Muss dieses Verbot durch Androhungen und durch Furcht erst gefestigt werden? Wozu muss die ethische Selbstverständlichkeit, einem Blinden gegenüber Rücksicht zu nehmen, mit Nachdruck untermauert werden?

Die Auslegungen der Weisen zeigen uns, dass dieser Vers eine Quelle vieler weiterer Informationen ist. Das Wort »blind« oder »Blinder« kommt nicht nur in der Tora, sondern auch in den Propheten vor, beispielsweise in Jesaja 43. Dort ist der Blinde (hebr. Iwer) keiner, der im biologischen Sinne nicht sehen kann, sondern einer, der nicht in der Lage ist, die Wahrheit zu erkennen, ein Unwissender.

Darauf basiert auch Raschis Kommentar. »Vor einen Blinden lege kein Hindernis. Einem, der in einer Sache blind ist, gib keinen Rat, der nicht gut für ihn ist. Sag nicht: ›Verkauf dein Feld und kauf dir einen Esel‹, während du nur einen Vorwand suchst, um es ihm zu nehmen«. Raschi betont: »Und fürchte dich vor deinem G’tt, weil es nicht dem Menschen gegeben ist, zu erkennen, ob die Absicht des anderen zum Guten oder zum Bösen war und dieser sich entziehen und sagen kann: ›Ich habe es gut gemeint‹.« Raschi schließt mit den Worten: »Fürchte dich vor deinem G’tt, der deine Gedanken kennt, und so steht es bei jeder Sache, die dem Herzen des Menschen, der sie tut, übergeben ist, während die anderen Menschen sie nicht zu erkennen vermögen, fürchte dich vor deinem G’tt.«

Im Talmud lernt man aus diesem Vers im Traktat Moed Katan, Seite 17: Ein Vater darf seinen Sohn nicht schlagen. Im Traktat Bawa Mezia, Seite 5 liest man dazu, dass man nicht jemandem Geld ohne Zeugen verteilen darf.

Diese beiden talmudischen Beispiele erweitern dieses Verbot, das anfänglich sehr einfach erschien, und zeigen Parallelen zu dem Wort »blind« auf. Das Beispiel, dass der Vater seinen Sohn nicht schlagen darf, besagt: Wenn er ihn schlägt, besteht die Möglichkeit, dass der Sohn blind und unberechenbar reagiert und seinen Vater zurückschlägt. Der Vater würde seinen Sohn also in eine Situation bringen, in der dieser nicht imstande wäre, richtig zu handeln. Der Sohn steht symbolisch für den Blinden, der Vater für das Hindernis und ist schuldig.

Auch im Fall des Geldverleihens ohne Zeugen sehen wir, dass der Schuldner in die Situation des Blinden gerät und der Verleiher in die des Hindernisses. Der Verleiher bringt den Schuldner möglicherweise in eine unglückliche Lage, weil er, wenn es keine Zeugen gab, sagen kann: »Ich habe gar kein Geld von dir erhalten«, oder: »Ich habe es dir bereits zurückgezahlt«.

Modell In unserer modernen Zeit heute haben wir viele Situationen, auf die wir dieses Modell anwenden können. Es werden von Händlern Waffen verkauft, aber was geschieht mit den Waffen? Es werden Kredite vergeben, aber wird auch darüber nachgedacht, ob der Kreditnehmer in der Lage ist, seine Schuld eines Tages zu begleichen?

Es ist ein Modell, in den verschiedensten Situationen Verantwortung zu übernehmen und bereit zu sein, die Konsequenzen abzuschätzen. Auch wenn man weiß, dass Handlungen, die möglicherweise negative Folgen haben, nicht geahndet werden können, setzt an diesem Punkt die G’ttesfürchtigkeit ein. Denn nur Er ist es, der unsere Gedanken und unsere Absichten kennt und weiß, ob es eine Herzensentscheidung war oder nicht.

Mögen wir die Fähigkeit besitzen, unsere Mitmenschen nicht zu behindern und unsere Entscheidungen stets mit gutem Willen treffen.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Duisburg – Mülheim – Oberhausen.

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