Schma Israel

Eine Frage der Identität

Pass: Zugehörigkeit steht über allem. Foto: cc

In unserer Parascha ist dreimal davon die Rede, dass Josef weinte (1. Buch Moses 43, 24,30 und 45,1). Er verbirgt seine wahre Identität vor seinen Brüdern. Aber als er merkte, dass sie ihre Tat bereuen, musste er weinen.

Es stellt sich die Frage, ob Josef, indem er sich nicht zu erkennen gab, auf Rache an seinen Brüdern aus war. Er verleugnete seine Identität, übte starken Druck auf die Brüder aus. Wollte er damit seinen Brüdern zeigen, wie bedeutsam die von G’tt gesandten Träume waren, in denen sich alle Gestirne vor ihm verneigten?

Wenn er mit dieser Haltung seine Macht ausspielen wollte, warum sagte er dann nicht zu Beginn, dass er der wahre Bruder sei? Warum gab er sich nicht zu erkennen? Er hatte genügend Macht, stand er doch im ägyptischen Staat nach Pharao an zweiter Stelle.

Rache Die Antwort finden wir in den Stellen, die Josef als Weinenden zeigen und in denen er von der Reue seiner Brüder erfährt. Ein Mensch, der sich nach Rache sehnt und sein Ziel bereits erreicht hat, weint nicht. Josef war zwar einer der mächtigsten Männer, doch er hatte sein persönliches Ziel noch nicht erreicht.

Der Verkauf Josefs durch seine Brüder ist die erste schwere Auseinandersetzung des Volkes Israel. Allerdings trifft Josef auch eine gewisse Teilschuld, denn seine vorangegangenen Äußerungen, seine Träume und die Überheblichkeit trieben die Brüder zu dieser Schandtat.

Nun aber hatte sich sein Traum bewahrheitet. Er war an der Macht, wie ihm vorhergesagt worden war. Doch Josef hatte einen Auftrag. Er empfand die innere Verpflichtung, das Volk Israel wieder zu vereinen, das war zu seinem Hauptanliegen geworden.

In seiner Machtposition hätte er die Brüder hart bestrafen können, mit Gefängnis oder gar mit dem Tod. Aber er tat es nicht. Er wollte sich nicht rächen.

Die von G’tt gesandten Träume sollten sich bewahrheiten. Der Weg zu seinem persönlichen Ziel, der Vereinigung der Stämme, der Festigung des Volkes Israel war jedoch nur auf diesem umständlichen Weg möglich.

Josef musste seine Brüder zuerst prüfen: Sind sie schon in der Lage, in einer kritischen Situation für den Jüngsten, Benjamin, einzutreten? Als die Zeit gekommen war, taten sie es. Jehuda sprach: »So lasse denn deinen Diener an des Knaben Stelle dir Sklave sein. Der Knabe aber mag hinaufziehen mit seinen Brüdern« (1. Buch Moses 44,33).

Herzenstreue Sie hatten den Test bestanden, konnten ihre Herzenstreue beweisen. Diese Einsicht und Reue der Brüder zeigte Josef, dass der Weg für eine Wiedervereinigung der Familie geebnet war.

Über das dramatische Wiedersehen mit seinem Vater Jakow lesen wir: »Da ließ Josef seinen Wagen anspannen und fuhr seinem Vater entgegen, hinauf nach Goschen. Und als er ihn erkannte, fiel er ihm um den Hals und weinte lange« (46,29).

Im Midrasch erklären unsere Weisen, dass bei der Begegnung nur Josef weinte. Jakow sei stumm geblieben, denn er habe gerade das Schma gebetet. Warum betete er in einem dramatischen Moment des Wiedersehens nach so langer Zeit das Schma? Nun, es ist das Symbol dafür, dass die jüdische Identität des Volkes Israels über allem steht.

Jakow wusste schon im Vorfeld, dass der Weg des jüdischen Volkes schwer und steinig werden würde. Das Weinen seines Sohnes war der Ausdruck seiner Gefühle. Jedoch stehen die Werte der jüdischen Identität in wichtigen Lebenssituationen über allen Dingen.

Josef weinte dreimal: immer dann, wenn seine Brüder Reue zeigten. Weinen ist ein Ausdruck der Freude, aber auch des Leids. Wir zeigen damit unsere Gefühle. Der Abschnitt lehrt uns, dass es Situationen gibt, in denen man der Sache wegen seine Emotionen unterdrücken soll.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Duisburg – Mülheim – Oberhausen.

Wajigasch

Nach Art der Jischmaeliten

Was Jizchaks Bruder mit dem Pessachlamm zu tun hat

von Gabriel Umarov  03.01.2025

Talmudisches

Reich sein

Was unsere Weisen über Geld, Egoismus und Verantwortung lehren

von Diana Kaplan  03.01.2025

Kabbala

Der Meister der Leiter

Wie Rabbiner Jehuda Aschlag die Stufen der jüdischen Mystik erklomm

von Vyacheslav Dobrovych  03.01.2025

Tradition

Jesus und die Beschneidung am achten Tag

Am 1. Januar wurde Jesus beschnitten – mit diesem Tag beginnt bis heute der »bürgerliche« Kalender

von Rabbiner Jehoschua Ahrens  01.01.2025 Aktualisiert

Chanukka

Sich ihres Lichtes bedienen

Atheisten sind schließlich auch nur Juden. Ein erleuchtender Essay von Alexander Estis über das Chanukka eines Säkularen

von Alexander Estis  31.12.2024

Brauch

Was die Halacha über den 1. Januar sagt

Warum man Nichtjuden getrost »Ein gutes neues Jahr« wünschen darf

von Rabbiner Dovid Gernetz  01.01.2025 Aktualisiert

Mikez

Schein und Sein

Josef lehrt seine Brüder, dass die Dinge nicht immer so sind, wie sie auf den Betrachter wirken

von Rabbiner Avraham Radbil  27.12.2024

Chanukka

Wie sah die Menora wirklich aus?

Nur Kohanim konnten die Menora sehen. Ihr Wissen ist heute verloren. Rabbiner Dovid Gernetz versucht sich dennoch an einer Rekonstruktion

von Rabbiner Dovid Gernetz  25.12.2024

Resilienz

Licht ins Dunkel bringen

Chanukka erinnert uns an die jüdische Fähigkeit, widrigen Umständen zu trotzen und die Hoffnung nicht aufzugeben

von Helene Shani Braun  25.12.2024