Mit dem Hashtag »beziehungsweise« und der dazugehörigen Webseite versuchen die evangelische und die katholische Kirche Berührungspunkte zwischen Christentum und Judentum zu betonen. Mit Blick auf die Frühjahrsfesttage klingt das so: »Jüdinnen und Juden feiern zu Pessach die Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten, Christinnen und Christen zu Ostern die Auferstehung Jesu vom Tod. Gott befreit und erlöst. Auch heute. Halleluja!«
Wie nahe sind sich aber die beiden Feste wirklich? Die Antwort ist kompliziert, und sie ist mit der zeitlichen Verortung des Karfreitags- und Ostergeschehens im Neuen Testament an den Pessachtagen keineswegs schlüssig beantwortet. Denn in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten herrschte in der Kirche selbst Uneinigkeit darüber, wie sehr die Nähe von Ostern zu Pessach zu betonen sei.
Die Praxis der sogenannten Quartodezimaner, die das Osterfest jährlich am 14. Nissan (dem Vorabend von Pessach, an dem im Tempel das Pessachopfer gebracht wurde) feierten, wurde 325 beim Konzil von Nicäa verboten, sodass diese christliche Tradition verschwand und Ostern bewusst auch zeitlich von Pessach entkoppelt wurde.
Abgrenzung Doch das ist nur ein Teil der Geschichte. Der andere erzählt von einer bewussten, fast obsessiven liturgischen Abgrenzung zwischen Judentum und Christentum. Sie ist seit der Jahrtausendwende unter anderem durch das Werk des israelischen Judaisten Israel Yuval ins öffentliche Bewusstsein gelangt.
Yuvals zentrale Forschungsthese lautet, dass grosse Teile der Pessach-Haggada, also der Befreiungserzählung, die das Zentrum des Sederabends bildet, als unmittelbare Reaktion auf christliche Diskurse zu lesen sei, die das Judentum disqualifizieren wollten.
Die wichtigste Referenzschrift, auf die Yuval zufolge die Haggada antworten wollte, stammte von Melito von Sardes, einem Bischof des 2. Jahrhunderts, der dem Judentum so nahe war wie kaum ein anderer Kirchenmann seiner Zeit. Melito war selbst Quartodezimaner und soll aus seiner Heimat in der westlichen Türkei nach Palästina gereist sein und sich intensiv mit den Schriften der hebräischen Bibel beschäftigt haben – doch mit gegen das Judentum gerichteten Absichten.
Dankeslied Yuval zeigt an etlichen Beispielen, wie die Haggada mit Melitos Schriften verbunden ist – so etwa im berühmten Lied »Dajenu«, in dem Gott für die Vielzahl seiner Wohltaten gedankt wird, von denen jede für sich schon genügt hätte. Ihr gegenüber steht ein Text Melitos, der den Juden Punkt für Punkt vorwirft, wie undankbar sie Gott gegenüber nach jeder seiner Wohltaten gewesen seien.
Die älteren jüdischen Forscher gingen immer davon aus, die Schriften der jüdischen, älteren Religion, seien notwendigerweise früher entstanden als die christlichen.
Yuval war nicht der erste, der einen Bezug dieser Texte zueinander feststellte – aber keiner vor ihm hat die Haggada als Reaktion auf frühere christliche Schriften gelesen. Die älteren jüdischen Forscher gingen, so Yuval, instinktiv immer davon aus, die Schriften der jüdischen, älteren Religion, seien notwendigerweise früher entstanden als die christlichen. Yuval bestreitet dies mit guten Argumenten, was der Haggada teilweise den Charakter einer Verteidungsschrift gegen christliche Angriffe verleiht.
»Die Haggada«, folgert der Judaist, »repräsentiert den jüdischen Dialog mit der christlichen Interpretation von Pessach. Dieser Dialog kreist um eine geteilte Hoffnung von Erlösung, ist aber in seiner Natur polemisch, da er gemeinsame Inhalte enthält, die von jeder Gruppe verwendet werden und die andere Gruppe verneint.«
Polemik Doch gerade hier wird auch der Unterschied zwischen Christentum und Judentum in ihrer polemischen Praxis evident, der vielleicht auch mit dafür verantwortlich war, dass die ältere Forschung konsequent die christlichen Texte als Reaktion auf die jüdischen betrachtete. Niemand nämlich, der über die Jahrhunderte die Haggada gelesen hat, ohne sich mit christlichen Antijudaismen zu beschäftigen, wäre auf die Idee gekommen, dass hier ein polemischer Hintergrund gegen das Christentum vorliegt.
Demgegenüber ist die christliche Osterliturgie über sehr lange Zeit von offenen Antijudaismen geprägt gewesen. Nicht zufällig war die Karwoche, in der sich der Vorwurf der Juden als »Gottesmörder« verdichtete, über lange Zeit eine Periode der Angst für jüdische Gemeinden, mit Ritualmordbeschuldigungen als furchtbarster Folge.
Karfreitagsfürbitte Auch die katholische Karfreitagsfürbitte, die bis 1960 noch offen feindselig über die Juden sprach, wurde später zwar schrittweise reformiert, was aber unter Papst Benedikt XVI. wieder teilweise aufgehoben wurde – sodass die Juden in heute gültigen Formen zwar nicht wie früher als »perfid«, aber doch als im Irrtum und der (christlichen) Erlösung noch harrend bezeichnet werden können.
Wenn nun »#beziehungsweise« als Zeichen zu werten ist, dass die von Yuval erwähnte »geteilte Hoffnung von Erlösung« tatsächlich als gleichwertig betrachtet wird, dann würde das eine sehr alte Geschichte gegenseitiger Widerlegungen beenden, von denen allerdings allein die christliche Widerlegung des Jüdischen sich nachhaltig und hartnäckig im Bewusstsein der Gläubigen hielt. Zu wünschen wäre es.
Der Autor lehrt Literatur- und Religionsgeschichte an der Universität Basel.