Kurzgeschichte

Ein Zwiegespräch

Reb Schachno: »Rachlust ist kein jüdisch Ding!« Foto: dpa

An einem Frühlingstage, einem richtigen warmen Pessachtage, gehen Reb Schachno, ein langer, magerer Jude, der letzte Überrest der alten Kozker Chassidim-Gemeinde, und Reb Sorach, ein ebenso magerer, doch klein gewachsener Jude, der letzte lebende Vertreter der alten Belzer Gemeinde, vor der Stadt spazieren.

In ihren jüngeren Jahren waren sie Feinde auf Tod und Leben, denn Reb Schachno war der Anführer der Kozker gegen die Belzer, und Reb Sorach der Anführer der Belzer gegen die Kozker. Doch jetzt, wo sie beide alt geworden sind und die Kozker nicht mehr das sind, was sie früher waren, ebenso wie auch die Belzer ihr früheres Feuer verloren haben, sind sie aus den Parteien ausgetreten und haben die Führerschaft jüngeren Leuten überlassen, die in Glaubenssachen schwächer, sonst aber rüstiger sind als sie.

An einem Wintertage, an der Ofenbank im Bethause haben sie Frieden geschlossen, und nun gehen sie am dritten Pessachfeiertage spazieren. Am weiten, blauen Himmel strahlt die Sonne, aus der Erde sprießen überall Halme, und man kann beinahe sehen, wie bei jedem Grashalme ein Engel steht und ihn zur Eile antreibt. Vögel schießen durch die Luft auf der Suche nach den vorjährigen Nestern.

mazzeknödel Und Reb Schachno sagt zu Reb Sorach: »Die Kozker Chassidim, die richtigen Kozker von altem Schrot und Korn – von den heutigen Kozkern spreche ich nicht! – hielten nicht viel von der Haggodo …« »Doch umso mehr von den Mazzeknödeln!«, lächelt Reb Sorach. »Lache nicht über die Knödel!«, antwortet Reb Schachno sehr ernst. »Lache nicht! Du kennst doch die geheime Bedeutung des Bibelwortes: ›Du sollst den Knecht nicht seinem Herrn überantworten‹?« »Mir genügt es«, antwortet Reb Sorach stolz und überlegen, »dass ich die Verzückung des Gebets kenne.«

Reb Schachno tut so, als ob er es nicht gehört hätte, und fährt fort: »Der offenbare Sinn der Worte ist doch klar: Wenn ein Knecht, ein Diener, ein Leibeigener seinem Herrn entläuft, darf man ihn, nach dem Gebote der Tora, nicht einfangen; man darf ihn nicht binden und seinem Herrn zurückbringen. Denn wenn ein Mensch entlaufen ist, so konnte er es wohl nicht länger aushalten … Es handelt sich also einfach um die Rettung einer Menschenseele! Und der verborgene Sinn dieser selben Worte ist ebenso einfach. Der Menschenleib ist ein Knecht, der Knecht der Seele! Der Leib ist ein Lüstling: Sieht er ein Stück Schweinefleisch oder eine fremde Frau oder irgendeinen Götzendienst, oder ich weiß nicht was – so will er aus der Haut fahren.«

seele »Doch die Seele wehrt es ihm und spricht: ›Du sollst nicht sündigen!‹, und er muss sich fügen. Ebenso umgekehrt: Will die Seele irgendein göttliches Gebot erfüllen, so muss es der Leib für sie tun, und wenn er noch so müde und zerschlagen ist. Die Hände müssen arbeiten, die Füße laufen, der Mund sprechen … Warum? Weil es ihm sein Herr, das heißt die Seele, befohlen hat. Und dennoch heißt es: ›Du sollst den Knecht nicht seinem Herrn überantworten.‹ Man darf also den Leib nicht ganz an die Seele ausliefern: Die flammende Seele würde ihn sonst zu Asche verbrennen, und hätte der Schöpfer Seelen ohne Leiber haben wollen, so hätte er überhaupt keine Welt erschaffen!«

»Darum hat auch der Leib seine Rechte; es steht geschrieben: ›Wer zu viel fastet, ist Sünder‹; denn der Leib muss essen! Wer fahren will, muss seinen Gaul füttern. Kommt irgendein Feiertag, so freue auch du dich, Leib! Nimm einen Schluck Branntwein! Die Seele hat ihre Freude, und auch der Leib hat seine Freude: Die Seele erfreut sich am Segensspruch, den man dabei sprechen muss, und der Leib – am Branntwein selbst! Heut ist Pessach, das Fest der Erinnerung an unsere Befreiung aus Ägypten – komm her, Leib, da hast du einen Mazzeknödel! Und der Leib fühlt sich dadurch gehoben; denn er wird teilhaftig der wahren Freude, die in der Erfüllung eines göttlichen Gebots liegt … Lache nicht über die Knödel, mein Lieber, lache nicht!«

auslegung Reb Sorach muss gestehen, dass die Auslegung tief ist und sich hören lassen kann. Er isst aber aus Prinzip keinerlei aus Mazzes hergestellte Speisen! »In diesem Falle hast du deine Freude an der trockenen Mazze selbst …« »Wer hat genug Mazzes, um sich satt zu essen? Und wer hat noch Zähne, um sie zu beißen?« »Wie erfüllst du dann das Gebot: ›An deinen Festen sollst du dich freuen‹ in Bezug auf den Leib?« »Weiß ich? Manchmal hat der Leib Freude an einem Schluck Rosinenwein … Ich persönlich habe meine größte Freude an der Haggodo selbst. Ich sitze da, lese die Haggodo, zähle die ägyptischen Plagen auf, verdoppele sie und lese sie immer von Neuem …«

»Du roher Kerl!« »Roher Kerl? Nach so vielen Verfolgungen, die das Volk Israel erlitten, nach so vielen Jahren der Verbannung der göttlichen Majestät aus ihrem Tempel? Ich meine, man hätte einführen sollen, dass die zehn Plagen siebenmal aufgezählt werden … Dass das Gebet ›Ergieße deinen Zorn, Herr, auf die Völker, die dich nicht anbeten!‹ siebenmal gesprochen wird! Doch vor allen Dingen die ägyptischen Plagen – die machen mir die größte Freude! Ich würde sie am liebsten bei offenen Türen und Fenstern aufzählen: Sollen sie es nur hören! Was habe ich zu fürchten? Die heilige Sprache verstehen sie ja sowieso nicht!«

metzger Reb Schachno wird für eine Weile nachdenklich, und dann beginnt er wie folgt: »Ich will dir eine Geschichte erzählen, die bei uns passiert ist. Ich will nicht übertreiben – etwa zehn Häuser vom Hause des gottseligen Rabbi entfernt wohnte ein Metzger. Ich will nicht mit dem Munde sündigen; denn der Mann ist schon längst auf jener Welt – aber der Metzger war ein roher Mensch, nun eben ein echter Metzger. Einen Nacken hatte er wie ein Stier, Augenbrauen wie Borsten und Hände wie Klötze. Und erst seine Stimme! Wenn er sprach, klang es wie ein ferner Donner oder wie wenn Soldaten schießen! Ich glaube sogar, er stammte aus Belz …« »Na, na!«, brummt Reb Sorach.

»So wahr ich lebe!«, erwidert Reb Schachno kaltblütig. »Zu beten pflegte er mit einer besonders wilden Stimme, mit allerlei Nebengeräuschen. Bei manchen Gebeten klang es, wie wenn man Wasser ins Feuer schüttet …« »Das kannst du dir schenken!« »Nun stelle dir vor, was für einen Lärm es gibt, wenn sich so ein Kerl an den Pessachtisch setzt und die Haggodo liest! In der Wohnung des Rabbi hört man jedes Wort! Nun, ein Metzger ist eben ein Metzger. Alle Tischgenossen beim Rabbi lachen. Und selbst der Rabbi, seligen Angedenkens, bewegt leise die Lippen, und man sieht, dass er lächelt. Doch später, als der Bursche anfing, die Plagen aufzuzählen, als sie ihm aus dem Maule herausflogen wie Flintenkugeln, als er bei jeder Plage mit der Faust auf den Tisch hämmerte, sodass die Weinbecher klirrten – wurde der Rabbi, sein Andenken sei gesegnet, sehr traurig …« »Traurig? Am Feiertage, am heiligen Pessachfeste – traurig? Was redest du da?«

»Man fragte ihn auch nach der Ursache.« »Und was gab er für eine Antwort?« »Auch der Schöpfer der Welt, sagte er, ist beim Auszuge Israels aus Ägypten traurig gewesen.« »Wo hat er das her?« »Es steht in einem Midrasch! Als die Kinder Israels durch das Meer gezogen waren und das Meer zurückfloss und Pharao mit seinem ganzen Heere bedeckte und ertränkte, fingen die Engel zu singen an, die Serafim flogen, und die Räder, auf denen Gottes Thron ruht, rollten durch alle sieben Himmel, jauchzend ob der guten Botschaft. Und die Gestirne und Sternenbilder fingen zu tanzen an!«

schöpfer »Du kannst dir denken, was für eine Freude es war, als es hieß: Die ganze Unreinheit ist ins Meer versunken! Doch der Schöpfer der Welt gebot allen Ruhe und sprach von seinem Throne herab: ›Meine Kinder ertrinken im Meere, und ihr singt und tanzt?‹ Denn Pharao und sein ganzes Heer und selbst alle Unreinheit – sind Gottes Geschöpfe … ›Und der Herr erbarmte sich seiner Schöpfung‹ – so steht es geschrieben!« »Von mir aus …«, seufzt Reb Sorach. Nach einer Weile fragt er: »Und wenn das schon in einem Midrasch steht, was hat da dein Rabbi Neues entdeckt?«

Reb Schachno bleibt stehen und sagt sehr ernst: »Erstens, du Belzer Narr, ist niemand verpflichtet, neue Auslegungen zu geben: In der Tora gibt es nichts Neues und nichts Altes, das Neue ist alt, und das Alte neu. Zweitens wird damit erklärt, warum es Sitte ist, die ganze Haggodo mit einer traurigen Melodie zu singen. Und drittens verstehen wir jetzt den Vers: ›Israel soll sich nicht erfreuen nach der Art der anderen Völker.‹ Deine Freude soll nicht roh sein! Du bist doch kein Bauer! Rachlust ist kein jüdisch Ding!«

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