Tora on Tour

Ein Vampir am Jabbok?

Heißen auch säkulare Juden zur Tora-Interpretation willkommen: Yair und Cecilia Haendler Foto: Jan Shapira

»Tora on Tour« nennen Yair und Cecilia Haendler ihr Diskussionsformat, das sie bereits in zahlreichen Orten Deutschlands vorgestellt haben. Ob in einem Wohnzimmer, einem Saal oder einem ruhigen Café – das junge Ehepaar lädt dazu ein, einzelne Abschnitte der fünf Bücher Mose zu studieren und so neue Sichtweisen zu entwickeln.

Bei diesem Kooperationsprojekt des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerkes (ELES) für jüdische Begabtenförderung und Hillel Deutschland geht es nicht um Unterricht, sondern um die eigene Beschäftigung mit dem Text. »Wir wollen neue Meinungen hören«, sagt Cecilia. Anstatt sich auf die Deutung eines Rabbiners zu verlassen, ermutigen sie und ihr Mann die Teilnehmer dazu, selbst Interpretationen vorzunehmen.

Neonlicht So wie am vergangenen Donnerstag im Seminarraum von ELES in Berlin. Im dritten Stock sitzen rund 20 junge Männer und Frauen unter Neonlicht um einen Tisch und diskutieren über Jakows Kampf am Jabbok: »Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach« (1. Buch Mose 32, 23–33). Doch mit wem rang Jakow an dem Fluss, der heute in Jordanien liegt, eigentlich? In der gängigen Auslegung kämpfte er mit G’tt und erhielt daraufhin den Namen Israel.

Doch die Teilnehmer von »Tora on Tour« verstehen den Text als nicht ganz so eindeutig. Yair Haendler fragt zum Beispiel: Wenn es sich um einen Kampf mit G’tt handelte – wie konnte es dann sein, dass Jakow in dieser Auseinandersetzung bestand? Ein anderer Diskussionsteilnehmer wirft ein, dass Jakow der genannten Person »von Angesicht zu Angesicht« begegnet sei. »Und doch wurde mein Leben gerettet«, heißt es im Text (1. Buch Mose 32,31). Warum also hat Jakow die Begegnung mit G’tt überlebt, während das anderen nicht gelang?

Ein weiterer Diskutant findet es seltsam, dass der mysteriöse Mann bei Sonnenaufgang wieder gehen musste. Denn wer fürchtet das Sonnenlicht? »Eben! Vampire!« Allgemeines Lachen bei diesem wohl nicht ganz ernst gemeinten Interpretationsvorschlag.

Eigenregie Mit ihrer eigenen Art des Toralesens haben Yair und Cecilia Haendler in ihrer Berliner Wohnung begonnen. Weil ihnen das gängige Unterrichtsangebot religiöser Einrichtungen nicht ausreichte, luden sie vor rund zwei Jahren Freunde ein, um einzelne Wochenabschnitte in Eigenregie zu deuten.

Als die beiden ELES-Stipendiaten dann ein Trainingsprogramm in den USA absolvierten, kamen sie auf die Idee, dass sich der Stil ihrer kleinen privaten Veranstaltungen auch dazu eignen könnte, um andere Menschen in Deutschland für die Auseinandersetzung mit der Tora zu gewinnen. Mit Unterstützung von Hillel Deutschland waren sie seitdem zu Besuch in Städten wie München, Düsseldorf und Hamburg – und auch in Tel Aviv.

Als »rabbinisch« versteht das Ehepaar seine Form des Diskutierens, weil es nicht um eine richtige Antwort geht, sondern um das Nachdenken über den Text. »In den Kommentaren haben die Gelehrten dasselbe wie wir heute gemacht«, sagt Yair Haendler und berichtet, dass in den Gesprächsrunden die Teilnehmenden häufig spontan auf die gleichen Fragen und manchmal sogar auf Lösungen wie Raschi kämen – der berühmte Kommentator aus dem Mittelalter.

Offenheit Willkommen ist bei »Tora on Tour« jeder und jede. Auch wenn sich Yair und Cecilia Haendler als orthodox verstehen, gilt ihr Angebot gleichermaßen für religiöse wie für säkulare Menschen. So kann die Tora auch einfach als interessante Literatur verstanden werden. »Tora on Tour« soll dazu beitragen, eine Beziehung zum überlieferten Text und zur Tradition aufzubauen, aber »es muss nicht unbedingt ein religiöses Judentum sein«, sagt Yair.

Anlass zur Diskussionsrunde zum Toraabschnitt im Seminarraum von ELES ist der Besuch von Eric Fingerhut, Präsident von Hillel International. Der Amerikaner, ehemaliges Mitglied des US-Repräsentantenhauses, zeigt sich begeistert von dem Format »Tora on Tour«. Über die Diskussion zu Jakow am Jabbok sagt er: »Ich habe Interpretationen gehört, an die ich noch nie gedacht habe.«

Hillel der Ältere Gegründet wurde die Organisation Hillel 1923 an der Universität von Illinois. Sie ist nach dem Gelehrten Hillel dem Älteren benannt, der im Jahr 7 n.d.Z. starb. Er gilt als Verfechter von Nächstenliebe und Milde. Heute ist Hillel International an 550 Universitäten vertreten und die größte jüdische Studierendenorganisation weltweit.

Durch die Kooperation mit ELES gibt es Hillel seit 2014 auch in Deutschland. »Tora on Tour« sei ein gutes Beispiel dafür, wie Hillel jungen Menschen ein Angebot mache, sich mit dem Judentum zu beschäftigen, sagt Eric Fingerhut.

Weitere Informationen unter tora@hillel-deutschland.de

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