Kaum hat der Pharao den Kindern Israels erlaubt, Ägypten zu verlassen, ändert er seine Meinung und zwingt sie zur Rückkehr. So finden sie sich plötzlich eingeschlossen – auf der einen Seite von den Truppen des Pharaos, auf der anderen Seite vom Schilfmeer.
Da befiehlt Gʼtt Mosche, seinen Stock über das Wasser zu halten – das Meer teilt sich, und das jüdische Volk kann es durchqueren. Doch kaum haben die Israeliten das andere Ufer erreicht, schließt sich das Meer wieder, und die Ägypter, die ihnen auf den Fersen waren, ertrinken. Daraufhin danken Mosche und die Israeliten Gʼtt mit einem Loblied.
Bei der anschließenden Wanderung durch die Wüste leiden die Kinder Israels an Durst und Hunger. Mehrfach beschweren sie sich bei Mosche und Aharon. Um ihre Leiden zu mildern, verwandelt Gʼtt eine bittere Wasserquelle, die an einem Ort namens Mara zu finden war, und lässt erfrischendes Trinkwasser aus einem Felsen fließen. Darüber hinaus versorgt er das jüdische Volk jeden Morgen mit Manna, das vom Himmel fällt.
Als das jüdische Volk am ersten Freitag doppelt so viel Manna wie üblich herabregnen sieht, erklärt Mosche, es handele sich um eine Extraportion für den Schabbat, denn am wöchentlichen Ruhetag werde kein Manna vom Himmel fallen. Auch heute noch erinnern wir uns jede Woche daran, indem wir den Schabbat traditionell mit zwei Broten, Challot, begehen.
Obwohl es nicht haltbar war und normalerweise bereits am nächsten Tag verdarb, blieb das Manna, das kurz vor dem Schabbat vom Himmel fiel, den ganzen Ruhetag über frisch. Aharon sammelte eine kleine Portion davon in einem Behälter als Zeugnis des Wunders für kommende Generationen, und auch dieses sollte genießbar bleiben. Das gesammelte Manna wird später noch einmal von Bedeutung sein. Denn der Legende nach kritisierte der Prophet Jirmejahu das jüdische Volk dafür, dass es nicht mehr Tora lernen würde. Als Ausrede bekam er zu hören, man könne ja nicht die Arbeit liegen lassen, um Tora zu lernen – wer solle denn sonst die Menschen ernähren? Daraufhin holte der Prophet den alten Behälter mit dem Manna von Aharon hervor und erinnerte das jüdische Volk daran, dass Gʼtt selbst in der Wüste einen Weg gefunden hatte, um es zu ernähren. Genauso würde er auch jetzt einen Weg finden, diejenigen zu ernähren, die ihn ehren.
Die Tora berichtet in unserem Wochenabschnitt über eine weitere wundersame Eigenschaft des Mannas: Es schmeckte immer nach dem, was sich die Person, die es isst, gerade vorstellte. Also würde sie für den einen nach Kohlrouladen schmecken, für den anderen nach Thai Curry – es war alles eine Frage der Imagination und trotzdem ein und dasselbe Manna.
Eine Erklärung: Mit »Manna« war einfach nur »eine Portion« gemeint
Doch was bedeutet das Wort »Manna«? Dazu gibt es verschiedene Meinungen. Die eine besagt, damit sei einfach nur »eine Portion« gemeint. Da die Menschen wussten, dass es verzehrfertig ist, aber keine Ahnung hatten, was genau Manna ist, nannten sie es »eine Portion«.
Raschis Enkel, der Raschbam, Rabbi Schmuel ben Meir (1085–1174), ein prominenter Kommentator des Tanachs und des Talmuds, erklärt, das Wort sei ägyptischen Ursprungs und bedeute »was«. Denn 430 Jahre Aufenthalt in Ägypten hatten es mit sich gebracht, dass das jüdische Volk das eine oder andere Wort in seinen Sprachschatz übernahm. Wenn Juden damals »Das ist Manna« sagten, so ist der Raschbam überzeugt, meinten sie eigentlich »Was ist das?«. Auf diese Weise konnte sich der Begriff »Manna« als ein Synonym für die »himmlische Speise« etablieren.
All dies sind gute Gründe, sich die Bedeutung von Manna einmal genauer anzuschauen. Was genau ist so besonders an dieser Speise? Es ist nicht von Menschenhand gemacht, lässt sich nicht aufbewahren, und jeder kann nur so viel davon sammeln, wie er für den Tag wirklich braucht.
Hier spricht die Tora vom Prinzip »Dvar Jom beJomo«, was so viel bedeutet wie »die Substanz eines Tages am Tag selbst«. Dieses Prinzip begegnet uns ein weiteres Mal ganz unerwartet in dem Textabschnitt, in dem davon berichtet wird, dass der Pharao nach einem fehlgeschlagenen Befreiungsversuch das Arbeitspensum der versklavten Hebräer erhöhte. In diesem Kontext ist mit der »Substanz des Tages« die Anzahl der Ziegel gemeint, die die Kinder Israels herstellen mussten.
Einen größeren Gegensatz könnte es kaum geben: Zum einen erscheint dieses Prinzip im Kontext von Sklavenarbeit und zum anderen im Zusammenhang mit der Befreiung aus genau dieser Knechtschaft.
Der Auszug aus Ägypten hat einen großen Wandel mit sich gebracht. Das Prinzip, das in der Sklaverei noch als Grundlage zur Erfassung einer notwendigen Summe von Baumaterial diente, wird nun in der Freiheit genutzt, um den täglichen Bedarf an Nahrung zu ermitteln.
Gʼtt befiehlt Mosche, ein Behältnis mit Manna in die Bundeslade zu legen
Am Ende der Manna-Erzählung wird die Bedeutung des Mannas im Judentum von Gʼtt betont: Er befiehlt Mosche, ein Behältnis mit dieser Speise in die Bundeslade, das Allerheiligste, zu legen.
Manna symbolisiert Gleichheit, indem eine zentrale Kontrollfunktion über Lebensmittel, wie es sie in Ägypten gab, abgeschafft wird. Die Aufteilung des Landes Israel unter den Stämmen wird ebenfalls mit Manna verglichen, da jeder Stamm Ländereien in angemessener Größe erhält.
Welche Lehre können wir aus der Geschichte rund um das Manna ziehen? Im Vordergrund steht wohl erst einmal die Tatsache, dass Gʼtt für uns sorgt. Recht oft, vor allem immer dann, wenn etwas Besonderes geleistet werden konnte, findet Gʼtt keine Erwähnung, sondern wird außen vor gelassen. Das Manna aber lehrt uns, dass Gʼtt hinter all dem steht, was wir bekommen.
Eine weitere wichtige Lehre, die uns durch das Manna bewusst werden soll, ist die Erkenntnis des »genug Habens«. Denn ab wann ist es eigentlich »genug«? Wie sieht das Nötigste aus, und was ist in unserem Leben nur Beiwerk, was also sind Dinge, die wir nicht wirklich brauchen? Genau diese Fragen sind heute in unserer konsumorientierten Gesellschaft, in der das »Immer-mehr-haben-wollen« dominiert, zunehmend schwieriger zu beantworten.
Das Manna zeigt uns, dass echte Freiheit in der heutigen Gesellschaft mit sich bringt, den klaren Blick für das Notwendige, für das Essenzielle zu bewahren. Dazu gehört auch, dass wir auf Dinge verzichten können. Es würde bestimmt nicht schaden, wenn wir uns folgende Fragen regelmäßig, beispielsweise jede Woche am Schabbattisch, stellen würden: Was brauche ich wirklich? Welche Dinge sind für mich und meine Familie tatsächlich notwendig, und was ist unnötig und versperrt meinen Blick auf das Wesentliche? Wir würden damit alle ein Stück Freiheit zurückgewinnen – ein wenig wie das jüdische Volk, das sich aus der Sklaverei befreite.
Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin.
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Der Wochenabschnitt Beschalach erzählt, wie die Kinder Israels auf der Flucht vor dem Pharao und seinen Truppen trockenen Fußes das Schilfmeer durchquerten. Es öffnete sich vor ihnen, die Hebräer zogen hindurch, und das Meer schloss sich hinter ihnen wieder, sodass die Soldaten des ägyptischen Herrschers in den Fluten ertranken. Danach beginnt der eigentliche Weg der Israeliten durch die Wüste. Die Tora berichtet, wie der Ewige die Menschen mit Manna und mit Wachteln versorgt und sie auffordert, Speise für den Schabbat beiseite zu legen. Dennoch fehlt es an Wasser, und die Kinder Israels beschweren sich bei Mosche. Der lässt daraufhin Wasser aus einem Felsen hervorquellen.
2. Buch Mose 13,17 – 17,16