Verwittert und mit Grün berankt: Auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee erinnert bis heute ein Grabstein an die Familie Scholem. Fünf Namen sind darauf zu lesen. Aber nur ein Mitglied der Familie liegt hier wirklich begraben, Arthur Scholem, der 1925 starb. Seine Frau Betty und seine vier Söhne – unter ihnen Kabbala-Forscher Gershom – starben in Buchenwald, Sidney und Jerusalem.
Der jüngste von ihnen, Gershom Scholem, wurde vor 125 Jahren, am 5. Dezember 1897, mit dem Vornamen Gerhard in Berlin geboren. Die ursprünglich aus Schlesien stammende Familie war weitgehend assimiliert. Die Eltern verehrten die deutschen Klassiker, fühlten sich in Berlin verwurzelt. Der Vater betrieb eine seit Generationen in Familienbesitz befindliche Druckerei. Die jüdische Religion, die bei Gerhards Großeltern noch eine wesentliche Rolle gespielt hatte, war bei der nachfolgenden Generation kein großes Thema mehr. So wurden hohe Feiertage in der Familie nicht gefeiert.
zionismus Mit entsprechendem Unverständnis reagierte Vater Arthur auf den Entschluss seines Jüngsten, sich dem Zionismus zuzuwenden und nach Israel auszuwandern. Anders als seine Eltern glaubte Gerhard »nicht daran, dass eine deutsch-jüdische Beziehung gelingen könnte«, wie es Jay Howard Geller in seinem Buch Die Scholems. Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie formuliert.
Alle vier Söhne stünden für »vier Wege des deutschen Judentums zu jener Zeit«: Reinhard, der älteste, war deutsch-national gesinnt, eine Einstellung, die er im australischen Exil bis ins Alter beibehielt. Der zweite, Erich, der ebenfalls nach Australien auswanderte, war bürgerlich-assimiliert. Der dritte Sohn, Werner, wurde Reichstagsabgeordneter der KPD; er wurde 1940 im KZ Buchwald ermordet. Und schließlich Gerhard, der 1923 mit 26 Jahren nach Israel auswanderte, um dort die »Kabbala« zu erforschen: Das hebräische Wort bedeutet so viel wie Überlieferung und wird als eine Art Uroffenbarung der Menschheit verstanden.
Als deutsch-israelischer Religionshistoriker, der mehr als 500 Werke publizierte, hatte er ab 1933 den ersten Lehrstuhl zur Erforschung der jüdischen Mystik an der Hebräischen Universität Jerusalem inne; er gilt als deren Wiederentdecker. Berliner Junge blieb er ein Stück weit bis zuletzt: Im Deutschen wie Hebräischen wies seine Mundart die unverkennbare schnoddrig-berlinische Färbung auf.
tradition Ende der 1930er-Jahre zog Scholem mit seiner Frau nach »Rechavia« - dem Jerusalemer Vorort, der sich ab 1933 zum Zentrum der deutschen Juden entwickelte. Scholem ließ sich 1936 im Adressverzeichnis als »Kabbalist« eintragen. Das hieß aber nicht, dass er diese bis heute auch bei Prominenten beliebte esoterische Tradition innerhalb der jüdischen Mystik selbst lebte – sondern dass er ihre Entwicklung seit dem 12. Jahrhundert darstellen wollte.
Scholem blieb immer ein religiös Suchender: »Dass er kein Atheist sei, ist das Äußerste, was Scholem anderen verriet«, schreibt Thomas Sparr in seinem Buch Grunewald im Orient. Trotzdem sei der Forscher Scholem überzeugt gewesen, »dass dennoch etwas dran ist. Solch höhere Ordnung, wie entstellt auch immer, ahnte ich in der Kabbala«, wie er einmal schrieb.
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges reiste Scholem oft nach Deutschland, zuerst 1946 im Auftrag der Hebräischen Universität, auf der Suche nach den von den Nationalsozialisten geraubten jüdischen Bibliotheken.
autobiografie Als er 1981 das letzte Mal vor seinem Tod in Berlin ist, trägt er in der Jüdischen Gemeinde in der Fasanenstraße aus seiner Autobiografie vor, die er auf Deutsch und Hebräisch verfasste und in der er seinen Lebensweg unter dem Titel Von Berlin nach Jerusalem erzählt. »Mir erschien dieser Weg als sonderbar direkt und von klaren Wegzeichen erhellt«, heißt es darin.
Bereits als junger Mann hatte er 1919 in einem Brief an seine Mutter geschrieben: »Was wird Gerhard Scholem? Nu? Zuerst wird er: Gershom Scholem. Na? Dann wird er Dr. phil. (hoffentlich). Dann wird er jüdischer Philosoph. Dann wird er Engel im 7. Himmel.« Gershom Scholem starb am 21. Februar 1982 in Jerusalem. Auf dem dortigen Friedhof Sanhedria liegt er wirklich begraben.