Nostra Aetate

Ein neuer Nathan

Aufführung von »Nathan der Weise« bei den 63. Bad Hersfelder Festspielen: Stephan Schad als Nathan und Fabian Baumgarten als Klosterbruder Foto: imago

Aus jüdischer Sicht ist Nostra aetate (»In unserer Zeit«) ein guter Grund zum Feiern. Das Dokument, das vor 50 Jahren – am 28. Oktober 1965 – vom II. Vatikanischen Konzil verabschiedet wurde, ist Ausdruck einer grundlegenden Veränderung in den schwer belasteten und äußerst komplexen Beziehungen zwischen dem Christentum, speziell der Katholischen Kirche, und dem Judentum. Nostra aetate ist für uns Juden daher ein großer und bedeutender Meilenstein im Verhältnis zwischen Juden und Christen.

Die berühmte Ringparabel in Lessings Nathan der Weise bringt die riesige Problematik des Verhältnisses der monotheistischen Religionen zueinander zum Ausdruck. Auf allegorische, leicht verständliche Art und Weise stellt die Parabel dar, wie jede der drei großen monotheistischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam – fest davon überzeugt ist, die richtige, und zwar die einzig richtige, Religion zu sein. Die Parabel der drei Ringe gibt dazu klar zu verstehen, dass sich nicht beweisen lässt, welches die richtige Religion sei. Wie Nathan es formuliert: »Der rechte Ring war nicht erweislich« (Nathan der Weise, 3. Aufzug, 7. Auftritt).

Die Parabel impliziert damit aber auch, dass nur eine der drei Religionen die wirklich richtige ist. Genauso wie in der Parabel nur ein Ring der richtige, die anderen beiden aber lediglich vollkommen gleich aussehende Imitationen sind, gilt nur eine Religion als die wirklich wahre; die beiden anderen dagegen sind nur gleich erscheinende Nachahmungen.

Exklusivitätsanspruch Mit dieser Parabel ist die Problematik des Verhältnisses der Religionen zueinander folglich nicht gelöst. Im Gegenteil, sie wird dadurch verstärkt und verewigt. Denn solange jede Religion überzeugt ist, die einzig richtige zu sein, wird sie nicht eingestehen und anerkennen wollen, dass auch die anderen wahr und richtig sind.

Sie wird sie vielmehr nur als »scheinbar richtig« betrachten. Jede Religion wird so ihren eigenen theologischen Exklusivitätsanspruch nicht aufgeben und wird erwarten, hoffen oder gar aktiv verursachen wollen, dass die anderen Religionen verschwinden werden.

Der Antijudaismus der Kirche ist das Resultat des Exklusivitätsanspruchs der christlichen Theologie. Das Christentum betrachtet sich als das »Neue Israel«, das neue »Volk Gottes«. Damit ist gemeint, dass das Christentum das Judentum ersetze. Während bis dahin die Juden das »Volk Gottes« gewesen seien, habe die Kirche nun diese Stellung übernommen. Gott habe ein »Neues Testament« schreiben lassen und eine neue Wahl getroffen. In der theologischen Terminologie wird dies »Substitutionstheologie« genannt: Das Christentum ersetze das Judentum.

Diese Theologie hat zum Antijudaismus der Kirche und zur 2000-jährigen Diskriminierung und Verfolgung der Juden geführt. Das Christentum will das Judentum ersetzen. Deshalb muss es dafür sorgen, dass das Judentum und die Juden zu verschwinden haben. Die Substitutionstheorie impliziert, dass das Christentum sich erst dann voll entfaltet hat, wenn die Juden nicht mehr da sind.

Auch der Antisemitismus, die Judenverfolgungen der Nazis und ihre »Endlösung der Judenfrage« waren direkt beeinflusst vom Antijudaismus der Kirche. Das hat nach dem Holocaust auch die Kirche eingesehen. Sie hat verstanden, dass ihre theologischen Ansichten zu unsäglicher Zerstörung, unendlichem Leid und unzähligen Morden geführt haben.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat in der Kirche deshalb ein langer, langsamer und schwieriger Prozess des Umdenkens begonnen. Ein Prozess, der in Nostra aetate direkt zum Ausdruck kommt: »Die Kirche beklagt ... alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus« (Paragraf 4).

Die Katholische Kirche erkennt hier zum ersten Mal an, dass ihr Antijudaismus zur Verfolgung der Juden geführt hat, und verpflichtet sich, jeglichen Antisemitismus zu verhindern. Mit Nostra aetate hat damit ein neues Kapitel in der Geschichte des Verhältnisses zwischen dem Judentum und dem Christentum begonnen.

Es ist auch sehr bemerkenswert, dass Nostra aetate explizit erklärt, dass »die Juden ... immer noch von Gott geliebt« sind und »man die Juden nicht als von Gott verworfen oder verflucht darstellen« darf. Paragraf 4 von Nostra aetate, der den Titel »Die jüdische Religion« trägt und ganz dem Verhältnis der Katholischen Kirche zum Judentum gewidmet ist, enthält auch die Aussage, dass die Juden »jenes Volk« sind, »mit dem Gott ... den Alten Bund geschlossen hat«.

All dies hat das Verhältnis – speziell den direkten Dialog – zwischen Judentum und Christentum stark verbessert und ist für uns somit ein sehr guter Grund zum Feiern. Die grundlegende Problematik des Verhältnisses des Christentums zum Judentum ist aber trotz Nostra aetate noch nicht gelöst.

Denn die Katholische Kirche hält weiterhin an der Substitutionstheologie fest. Ein Abschnitt in Paragraf 4 von Nostra aetate beginnt mit den Worten: »Gewiss ist die Kirche das neue Volk Gottes.« Die Katholische Kirche ist immer noch der Ansicht, dass das Christentum ein Ersatz sei für das Judentum.

Sie ist also immer noch nicht bereit, das Judentum als eine richtige Religion anzuerkennen. Die Katholische Kirche hält nach wie vor an ihrem theologischen Exklusivitätsanspruch fest: »Extra ecclesiam nulla salus« (»Außerhalb der Kirche kein Heil«). Sie ist immer noch voll überzeugt, die einzig richtige Religion zu sein – genau wie die Parabel im Nathan es zum Ausdruck bringt.

Nostra aetate hat sicherlich entscheidend zur Verbesserung der Beziehungen zwischen der Katholischen Kirche und den Juden beigetragen. Das Problem des Verhältnisses der Religionen zueinander ist aber bei Weitem nicht gelöst. Im Christentum ist der Exklusivitätsanspruch noch lange nicht überwunden. Als jüdischer Theologe bin ich deshalb der Ansicht und der vollen Überzeugung, dass ein neuer Nathan notwendig ist. Wir brauchen eine neue Parabel.

Dem aufgeklärten Lessing ist es mit seiner Parabel gelungen, zu zeigen und verständlich zu machen, dass keine der Religionen beanspruchen und beweisen kann, die einzig richtige zu sein. Wir brauchen nun aber eine neue, modernere, »postmoderne« Parabel. Sie soll an Lessings Nathan anknüpfen, die Erzählung aber weiterentwickeln und grundlegend verändern.

versprechen Auch in dieser neuen Parabel hat der Vater drei Söhne, die er liebt, weswegen er ihnen allen einen besonderen Ring verspricht. In dieser Parabel hält der Vater sein Versprechen aber auf andere Art und Weise. Er lässt den wertvollen Ring von einem Künstler auseinandernehmen und gibt ihm den Auftrag, daraus drei ähnliche, aber nicht identische Ringe herzustellen.

In jeden Ring soll ein Teil des wertvollen Steines integriert, und jeder Ring soll mit besonderen Verzierungen bestückt werden. Durch diese Verzierungen sollen sich die drei Ringe sichtbar voneinander unterscheiden. Denn es ist dem Vater wichtig, dass jeder der drei Ringe einen Teil des wertvollen Steines beinhaltet und dass jeder der Ringe den anderen ähnlich ist. Es ist ihm aber ebenso wichtig, dass er jedem Sohn einen einzigartigen, zu ihm passenden Ring überreichen kann.

Vor seinem Tod ruft der Vater seine Söhne zu sich und erklärt ihnen, dass er jeden von ihnen besonders liebt und ihm als Ausdruck seiner Liebe einen wertvollen Ring überreicht. Einen Ring, der »die geheime Kraft (hat), vor Gott und Mensch angenehm zu machen«.

In der neuen Parabel fügt der Vater aber hinzu, jeder Sohn müsse wissen und dürfe niemals vergessen, dass er nicht der einzige sei, der einen Ring erhalten habe. Auch seine Brüder seien Träger eines wertvollen, sehr ähnlich aussehenden Rings.

»Ich übergebe jedem von euch einen besonderen Ring«, sagt der Vater zu seinen Söhnen, »damit jeder auf seine Art mit seinem Ring ein sinnvolles, erfülltes und glückliches Leben führen kann, und damit ihr in Frieden miteinander leben könnt.«

Zerstörung Nach dem Tod des Vaters wollte anfänglich jeder Sohn behaupten und beweisen, dass sein Ring wertvoller und »besonderer« sei als die Ringe seiner Brüder. Es kam deshalb zu großem Streit zwischen den Brüdern und zu heftigen Auseinandersetzungen, die enorme Zerstörung mit sich brachten und viel Schmerz verursachten.

Nach langen Jahren der Zerstörung gelangten die Brüder aber – einer nach dem andern und jeder auf seine Art – zu einer zweifachen Einsicht. Erstens verstanden sie, dass der Streit unter ihnen nur Schaden verursachen und keinem nützen würde und dass es folglich im Interesse jedes Einzelnen sei, den Streit zu beenden. Zweitens begannen sie aber auch, sich an die Worte ihres Vaters zu erinnern und sie zu verstehen.

Sie erinnerten sich nun, dass ihr Vater ihnen erklärte, dass er jedem der Brüder einen wertvollen, den anderen ähnelnden Ring übergebe, und verstanden nun, dass dies für sie bedeutet, dass jeder von ihnen vom Vater den für ihn passenden Ring erhielt – und es deshalb unangebracht ist, behaupten zu wollen, einer der Ringe sei wertvoller oder spezieller als die anderen.

Existenzberechtigung Die Parabel des neuen Nathan will verständlich machen, dass alle großen monotheistischen Religionen Wahres an sich haben. Sie sind alle Teil eines göttlichen Plans und haben deshalb alle volle Existenzberechtigung.

Jede der drei Religionen hat deshalb das Recht, sich selbst als richtig zu betrachten. Gleichzeitig müssen Judentum, Christentum und Islam aber bereit sein, den anderen Religionen dasselbe Recht zuzugestehen. Alle müssen lernen, die Existenzberechtigung der anderen anzuerkennen.

Es ist offensichtlich, dass es bis heute jeder der drei Religionen schwerfällt, nicht nur sich selbst als richtig und wahr zu betrachten, sondern auch den anderen beiden dasselbe zuzugestehen. Alle drei Religionen haben da noch große Fortschritte zu machen. Alle drei müssen verstehen, dass es keiner Religion zusteht und sich keine Religion das Recht nehmen darf, im Namen Gottes andere Menschen zu unterdrücken, zu verfolgen oder zu töten. Das kann nicht die Absicht des Vaters sein. Wenn wir Menschen hier auf Erden erreichen wollen, dass die Religionskriege zu einem Ende kommen, dass das brutale und unnötige Morden aufhört, so müssen die drei Söhne – Judentum, Christentum und Islam – endlich lernen und verstehen, dass jeder seinen Ring von Gott erhalten hat. Gott hat für jeden einen speziellen Ring herstellen lassen, um ihn »vor Gott und Mensch angenehm zu machen« – damit wir Menschen in Anerkennung Gottes in Respekt und Frieden miteinander leben können.

Der Autor ist Rabbiner der Gemeinde »Semer ha-Sajit« in Efrat bei Jerusalem und Dozent für Judaistik an den Universitäten Zürich und Luzern. Er ist jüdischer Co-Präsident der Jüdisch/Römisch-katholischen Gesprächskommission und Mitglied der Evangelisch-Jüdischen Gesprächskommission in der Schweiz.

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