Chukkat

Ein mündiges Volk

Foto: Getty Images

Mosche und Aharon sitzen trauernd über den Tod ihrer älteren Schwester Mirjam Schiwe. Da sehen sie, wie sich ihnen eine große Abordnung der Israeliten nähert. »Ist das nicht herzerwärmend? Schau mal, wie sie sich um uns sorgen! Sie kommen in Massen, um zu kondolieren«, mögen wohl die Worte Aharons zu Mosche gewesen sein. Doch er irrt.

»Weil kein Wasser für die Gemeinde da war, rotteten sie sich zusammen gegen Mosche und Aharon. Das Volk haderte mit Mosche und sprach: ›Wären wir doch umgekommen, da unsere Brüder umkamen vor dem Ewigen! Wozu habt ihr die Gemeinschaft des Ewigen in diese Wüste geführt? Dort zu sterben, wir und unser Vieh? Und wozu habt ihr uns heraufgeführt aus Ägypten? Um uns an diesen bösen Ort zu bringen?‹« (4. Buch Mose 20, 3–5).

Diese Worte schmettern sie den beiden Trauernden direkt ins Gesicht, sodass sie keinen Ausweg sahen, als bei G’tt im Heiligtum Zuflucht zu suchen (Vers 6, vgl. den Kommentar des Neziws, Rabbiner Naftali Z. J. Berlin, in Haamek Dawar).

WÜSTE Einmal mehr lässt sich an dieser Stelle nicht nur das fehlende Feingefühl der Israeliten erkennen, sondern man kann auch sehen, wie abhängig das Volk von Mosche und Aharon ist, und das seit fast 40 Jahren. Schon als die Ägypter den Israeliten nachjagten, um sie in die Sklaverei zurückzuholen, beklagte sich das Volk bei Mosche: »Gibt es denn keine Gräber in Ägypten, dass du uns zum Sterben in die Wüste führst? Was hast du uns angetan, uns aus Ägypten zu führen!« (2. Buch Mose 14,11).

Auch die große Errettung durch die Spaltung des Schilfmeers brachte keine Wende – ganz im Gegenteil, die Abhängigkeit vertiefte sich von Krise zu Krise: als sie kurz darauf kein Wasser zum Trinken hatten (15,24 und 17, 2–3); oder als sie hungrig waren (16, 2–3). So auch hier, wieder und einmal mehr. Mit dem Unterschied, dass inzwischen fast 40 Jahre vergangen sind.

Wie Maimonides, der Rambam, und vor ihm schon Rabbi Awraham Ibn Esra erklärt, war es, im Nachhinein betrachtet, historisch notwendig, eine neue Generation heranwachsen zu lassen, damit sich das Volk von der Sklavenmentalität befreit. Es sollte eine neue Generation ins Land Israel einziehen: freie und mündige Bürger.

Die frühere Generation glich einem Kind, das in den ersten Lebensjahren auf Schritt und Tritt auf die Eltern angewiesen ist. Doch um ins Land Israel einziehen und da als freie Nation bestehen zu können, war es notwendig, einen Reifeprozess durchzumachen, selbstständig und erwachsen zu werden.

Doch weil es an Wasser mangelt, verliert auch die neue Generation Herz und Verstand und fällt in die Abhängigkeit zurück, sodass ihr selbst der letzte Rest Mitgefühl für die Trauer von Mosche und Aharon abhandenkommt. Wird das irgendwann enden?

Tatsächlich ja, und zwar deutlich zu beobachten im Verlauf unseres Wochenabschnitts. Wir sehen es in der Begegnung der Israeliten mit feindlich gesinnten Völkern der Umgebung. Beim Zusammentreffen mit Edom ist es noch Mosche, der Boten ausschickt (4. Buch Mose 20,14), doch als Aharon stirbt und daraufhin die schützenden g’ttlichen Wolken um die Israeliten herum verschwinden (Talmud Taanit 9a), sind sie dem Angriff der Kanaaniter ausgesetzt.

Diesmal wendet sich das Volk nicht an Mosche, sondern handelt selbstständig. Die Israeliten rufen zu G’tt, der sie erhört und ihnen die Kanaaniter übergibt (4. Buch Mose 21, 1–3).

Als dem Volk kurz darauf ein weiteres g’ttliches Wunder passiert, fällt auf, dass die Israeliten wie damals am Schilfmeer ein Loblied auf den Ewigen singen. Doch anders als damals spielt Mosche dabei keine führende Rolle mehr. Israel zeigt auch im Preisen G’ttes, dass es selbstständig ist (17).

Als Nächstes wird geschildert, wie »Israel Boten zu Sichon, dem König der Emoriter, schickt« (4. Buch Mose 21,21). Obwohl dies später Mosche zugeschrieben wird (5. Buch Mose 2,26), liegt hier die Betonung auf dem Volk, das aktiv wurde, sodass Mosche unerwähnt bleibt.

Die Tora scheint dies ganz bewusst der Begegnung mit Edom gegenüberzustellen, als Mosche Boten schickte. Doch hier ist das Volk der Handelnde! Auch in der Beschreibung der darauffolgenden kriegerischen Auseinandersetzung verschwindet Mosches Name, und stattdessen taucht außergewöhnlich oft der Name Israels auf. Hinzu kommt, dass es in diesem Kampf keine g’ttlichen Wunder gibt, sondern Israel ficht ihn mit militärischer Kraft allein aus.

SÜNDE Die Israeliten machen also die notwendige Entwicklung durch und lösen sich von der steten Abhängigkeit von ihren Anführern. Der Neziw (5. Buch Mose 1,37) schreibt, es sei unabdingbar gewesen, dass Mosche das Volk nicht mehr ins Land Israel begleitete: »Denn seine hauptsächliche Sünde war es, den Israeliten nicht aufzuzeigen, wie sie ihre Bedürfnisse auf den Wegen der natürlichen Gesetzmäßigkeiten durch die Tora und das Gebet erfüllen können.«

Das Volk musste imstande sein zu lernen, dass es sich um die eigenen Bedürfnisse selbst kümmern kann – anhand der von G’tt gegebenen Naturgesetze und natürlicher Wege, mithilfe der Tora als Wegweiser sowie mit dem Gebet, in dem es um g’ttliche Hilfe bittet.

Diese Fähigkeit konnte sich das Volk jedoch nicht aneignen, solange Mosche es anführte und die gewohnte wunderbehaftete Abhängigkeit in der Wüste (das Manna, der wandernde Brunnen, die schützenden Wolken) es umgab.

Dass Mosche das Volk vor Betreten des Landes verlassen musste und seinem Nachfolger und Schüler Jehoschua die Führung überließ, war also weniger eine Strafe als vielmehr ein Platzmachen für die weitere Entwicklung des Volkes.

Unsere Weisen vergleichen Mosches Strahlkraft mit der der Sonne und die Strahlkraft Jehoschuas mit der des Mondes (Talmud Baba Batra 75a). Die Sonne strahlt zwar unvergleichlich stärker und gibt eigenes Licht, Energie und Wärme ab – doch es ist der Mond, der die Möglichkeit bietet, auch die zahllosen Sterne zu sehen und zu erkennen.

Ein jedes der Kinder Israels ist dazu bestimmt, wie ein Stern zu leuchten, wie es heißt: »Und Er (G’tt) führte ihn (Awraham) hinaus und sagte: ›Schau zum Himmel und zähl die Sterne, wenn du sie zählen kannst.‹ Und Er sprach zu ihm weiter: ›So werden deine Nachkommen sein‹« (1. Buch Mose 15,5).

Der Autor ist Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wien.

inhalt
Der Wochenabschnitt Chukkat berichtet von der Asche der Roten Kuh. Sie beseitigt die Unreinheit bei Menschen, die mit Toten in Berührung gekommen sind. In der »Wildnis von Zin« stirbt Mirjam. Im Volk herrscht Unzufriedenheit, man wünscht sich Wasser. Mosche öffnet daraufhin eine Quelle aus einem Stein – aber nicht so, wie der Ewige es geboten hat. Mosche und Aharon erfahren, dass sie deshalb das verheißene Land nicht betreten dürfen. Erneut ist das Volk unzufrieden: Es ist des Mannas überdrüssig, und es fehlt wieder an Wasser. Doch nach der Bestrafung bereut das Volk, und es zieht gegen die Amoriter und die Bewohner Baschans in den Krieg und erobert das Land.
4. Buch Mose 19,1 – 22,1

Chabad

Gruppenfoto mit 6500 Rabbinern

Tausende Rabbiner haben sich in New York zu ihrer alljährlichen Konferenz getroffen. Einer von ihnen aber fehlte

 02.12.2024

Toldot

Jäger und Kämpfer

Warum Jizchak seinen Sohn Esaw und nicht dessen Bruder Jakow segnen wollte

von Rabbiner Bryan Weisz  29.11.2024

Talmudisches

Elf Richtlinien

Wie unsere Weisen Psalm 15 auslegten

von Yizhak Ahren  29.11.2024

Ethik

»Freue dich nicht, wenn dein Feind fällt«

Manche Israelis feiern auf den Straßen, wenn Terroristenführer getötet werden. Doch es gibt rabbinische Auslegungen, die jene Freude über den Tod von Feinden kritisch sehen

von Rabbiner Dovid Gernetz  29.11.2024

Potsdam

In der Tradition des liberalen deutschen Judentums

Die Nathan Peter Levinson Stiftung erinnerte an ihren Namensgeber

 28.11.2024

Kalender

Der unbekannte Feiertag

Oft heißt es, im Monat Cheschwan gebe es keine religiösen Feste – das gilt aber nicht für die äthiopischen Juden. Sie feiern Sigd

von Mascha Malburg  28.11.2024

Berlin

Spendenkampagne für House of One startet

Unter dem Dach des House of One sollen künftig eine Kirche, eine Synagoge und eine Moschee Platz finden

von Bettina Gabbe, Jens Büttner  25.11.2024

Chaje Sara

Handeln für Generationen

Was ein Grundstückskauf und eine Eheanbahnung mit der Bindung zum Heiligen Land zu tun haben

von Rabbiner Joel Berger  22.11.2024

Talmudisches

Elefant

Was unsere Weisen über die Dickhäuter lehrten

von Rabbiner Netanel Olhoeft  22.11.2024