Unser Wochenabschnitt beginnt mit Gesetzen und Begebenheiten, die seltsam anmuten. So lesen wir von Vorschriften, die ein jüdischer Soldat zu befolgen hat, wenn ihn im Krieg seine Triebe übermannen, er sich in eine nichtjüdische Frau verliebt und sie heiraten möchte. Nach einer gewissen Prozedur wird die Frau jüdisch, und der Soldat darf sie heiraten.
Direkt im Anschluss daran finden wir die Gesetze, die ein Mann befolgen muss, wenn er Söhne von zwei Frauen hat und der Erstgeborene der Sohn von der weniger geliebten Ehefrau ist. Auch in diesem Fall kann das Erstgeborenenrecht nicht auf den Sohn der Lieblingsfrau übertragen werden.
Warum sagt die Tora, dass Dina die Tochter von Lea war und nicht die Tochter Jakows?
Schließlich lesen wir von einem eigensinnigen und rebellischen Sohn. Dieser ist ein junger Mann, der einen Lebensweg eingeschlagen hat, der letztendlich zu Zerstörung und Blutvergießen führen wird. Der Talmud sagt: »Lass ihn unschuldig sterben und nicht erst dann, wenn er eine schwere Straftat begangen hat« (Sanhedrin 71a).
Bedingungen Der Talmud lehrt, dass es nie einen solchen Fall gab. Es ist praktisch unmöglich, die von der Tora vorgeschriebenen Bedingungen zu erfüllen.
Aber warum, fragt der Talmud, hat sich die Tora dann die Mühe gemacht, diese Reihe von Gesetzen zu formulieren, die doch niemals umgesetzt werden? »Lern die Gesetze«, antwortet der Talmud, »und du wirst belohnt!«
Die Aussage »und du wirst belohnt« verstehen unsere Gelehrten als Bildungsauftrag an jüdische Eltern. Erziehung ist etwas, das nicht von selbst geschieht. Eltern müssen einen Plan haben, wie sie ihr Kind zu einem guten und aufrichtigen Menschen erziehen.
Von Rabbiner Elijahu Mizrachi – er war im 15. Jahrhundert Oberrabbiner von Konstantinopel – sind Gedanken über die Vorschriften überliefert, wie mit dem rebellischen Sohn zu verfahren ist. Der Rabbiner meinte, dass die Umsetzung der Gerechtigkeit, die auf der Projektion zukünftiger böser Taten basiert, einem Prinzip zu widersprechen scheint, das wir im Wochenabschnitt Wajera gelernt haben.
Als der junge Jischmael in der Wüste gegen den Durst kämpfte und lauthals schrie, erschien seiner Mutter Hagar ein Engel und sagte zu ihr: »Fürchte dich nicht, denn G’tt hat die Stimme des Jungen, wie er jetzt ist, gehört« (1. Buch Mose 21,17). Sogleich beschwerten sich die Engel und fragen, warum G’tt diesen Jungen, der dem jüdischen Volk später so viel Leid antun wird, durch ein Wunder rettet. Der Allmächtige antwortete den Engeln: »Ist er gegenwärtig schuldig oder unschuldig?« Die Engel räumten ein, dass der junge Jischmael zu diesem Zeitpunkt in seinem Leben schuldlos war. Daraufhin sagt der Allmächtige: »Ich beurteile Menschen nur nach ihrer aktuellen Lage.«
Widerspruch Rabbiner Elijahu Mizrachi sieht hier einen klaren Widerspruch: Einerseits töten wir den eigensinnigen Sohn auf der Grundlage zukünftiger Handlungen, und andererseits beurteilt G’tt eine Person nur auf der Grundlage ihrer Schuld zum gegenwärtigen Zeitpunkt.
Der Talmud berichtet von zwei Personen, die die gleiche Krankheit hatten, und auch von zwei Personen, die wegen des gleichen Verbrechens zum Tode verurteilt werden (Rosch Haschana 18a). Er fragt: Wie kommt es, dass mancher in einer solchen Situation lebt und mancher stirbt? Die Antwort lautet: »Dieser betete, und es wurde ihm geantwortet; dieser betete, und es wurde nicht geantwortet. Dieser betete ein inbrünstiges Gebet, und der andere betete ein Gebet, das nicht vollständig war.«
Warum betrachtet die Tora das »Hinausgehen« als etwas Negatives?
Der Grund, warum Jischmael gerettet wurde, war also nicht nur, dass er nach seinem aktuellen Status beurteilt wurde. Bei ihm kam noch ein weiterer Faktor ins Spiel: »Und er hörte die Stimme des Jungen«. Obgleich Jischmael dazu bestimmt war, Juden zu töten und »nach seinem Ende beurteilt« werden sollte, konnte seine Gebetskraft alles andere übertreffen.
Bestimmungen Wenden wir uns den eingangs erwähnten Bestimmungen für den jüdischen Soldaten zu. Die Tora benutzt hier die Redewendung: »Ki teze lemilchama« – »Wenn du ausziehst in den Krieg«. Fast jedes Mal, wenn die Tora das Wort »jezia« (Hinausgehen) erwähnt, erklären es unsere Weisen abfällig. »Und Dina, die Tochter von Lea, ging hinaus, um die Mädchen des Landes zu sehen« (1. Buch Mose 34,1).
Wie kommt es, dass mancher in einer solchen Situation lebt und mancher stirbt?
Warum sagt die Tora, dass Dina die Tochter von Lea war und nicht die Tochter Jakows? Weil Lea auch indiskret handelte, indem sie »ausging«, wurde Dina als Tochter Leas bezeichnet.
Ebenso heißt es in der Tora in Bezug auf den Mann, der G’tt verfluchte: »Und der Sohn einer jüdischen Frau ging hinaus und verfluchte G’tt« (3. Buch Mose 24, 10–11). In diesem Fall sei damit gemeint, dass er seine Welt verlassen habe, erklärt der mittelalterliche Kommentator Raschi (1040–1105).
Wir finden den Begriff »Jezia« aber auch positiv interpretiert. So schreibt die Tora über Jakow: »Und Jakow ging weg aus Beer Sheva« (1. Buch Mose 28,10). Raschi erklärt: »Wenn ein Zaddik aus einer Stadt wegzieht, hinterlässt er eine Leere. Wenn er in ihrer Mitte lebt, ist er ihre Pracht und Herrlichkeit, und wenn er sie verlässt, verliert sie diese Pracht und Herrlichkeit.« Warum betrachtet die Tora das »Hinausgehen« im Allgemeinen als etwas Negatives, und inwiefern unterscheidet sich Jakows Abschied von den anderen erwähnten Fällen?
Die Antwort finden wir in unserem Wochenabschnitt in den Bestimmungen für den Soldaten. Raschi erklärt, die Tora habe eine solche Ehe nur deshalb erlaubt, weil die Soldaten diese Frauen sonst auf verbotene Weise geheiratet hätten.
Begehren Der Talmud (Sota 44b) sagt, dass nur völlig gerechte Männer in den Krieg zogen. Sogar wer ein lediglich rabbinisches Verbot übertrat, wurde angewiesen, nicht in die Schlacht zu ziehen. Wenn dem so ist, warum befürchten wir, dass solche spirituellen Riesen eine nichtjüdische Frau in dem Maße begehren würden, dass sie, falls die Tora es ihnen nicht erlaubt hätte, sich allen Gesetzen wiedersetzend diese nichtjüdische Frau geheiratet hätten?
Die Antwort finden wir im Wort »Jezia«. Im Krieg sind Soldaten Situationen ausgesetzt, die sie hauptsächlich reagieren lassen. In der Hitze des Gefechts bleibt wenig Zeit zum Nachdenken. In solchen extremen Situationen können selbst Gerechte straucheln.
Dies ist auch der Grund dafür, warum die Tora fordert, dass der Soldat diese Frau erst nach einem Monat heiraten darf. Dies gibt ihm Zeit, wieder heimzukehren und in sich zu gehen.
Aus diesem Grund bezieht sich die Tora auf die meisten Fälle, in denen auf negative Weise »ausgegangen« wird. Nur in Bezug auf einen wirklich Gerechten wie Jakow erklären die Weisen dieses Wort in einem positiven Licht. Egal, wo sich Jakow befand, er konnte sein spirituelles Niveau auch unter widrigen Umständen bewahren.
Der Monat Elul, in dem wir uns jetzt befinden, gilt als Vorbereitungszeit auf Rosch Haschana und Jom Kippur. So wie der Soldat einen Monat lang Zeit hatte, um in sich zu gehen und heimzukehren, haben auch wir die Möglichkeit, von den Wirren unseres Lebens heimzukehren – um dann an Rosch Haschana mit unserem wirklichen Ich G’tt zum König über alles zu krönen.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Duisburg-Mülheim/Ruhr-Oberhausen und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).
Inhalt
Im Wochenabschnitt Ki Teze werden Verordnungen wiederholt, die Familie, Tiere und Besitz betreffen. Dann folgen Verordnungen zum Zusammenleben in einer Gesellschaft, wie etwa Gesetze zu verbotenen sexuellen Beziehungen, dem Verhalten gegenüber Nicht-Israeliten, Schwüren und der Ehescheidung. Es schließen sich Details zu Darlehen, dem korrekten Umgang mit Maßen und Gewichten sowie Sozialgesetze an.
5. Buch Mose 21,10 – 25,19