Schofar

Ein Klang, der alle Mauern sprengt

Ein Schofar ist ein aus dem Horn eines koscheren Tieres gemachtes Blasinstrument. Foto: Getty Images/ iStock

Ein Mann ging nachts durch einen Wald, voll mit wilden gefährlichen Tieren. Es war fürchterlich, doch der Mann hatte einen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen dabei. Zuerst schoss er seine Pfeile bei jedem verdächtigen Geräusch ab, jedoch stellte sich jedes Mal heraus, dass es nur Äste und Büsche waren.

Bald merkte der Mann, dass er nur noch einen einzigen Pfeil hatte. Da hörte er auf zu schießen und bewahrte den letzten Pfeil sorgfältig auf – dieser könnte ihm ja noch sein Leben retten.

Mit dieser dramatischen Geschichte schildert der Maggid von Dubnow, Rabbiner Jakob Kranz (1740–1804), die Bedeutung des Schofars an Rosch Haschana.

Am jüdischen Neujahrsfest, das gleichzeitig auch der Tag ist, an dem alle Menschen auf der Erde von G’tt gerichtet werden, befiehlt uns die Tora, das Schofar zu blasen (4. Buch Mose 29,1): »Und im siebenten Monat am ersten des Monats sollt ihr heilige Versammlung haben; keine Arbeit sollt ihr tun; ein Tag des (Schofar)tons sei es euch.«

Horn Doch was ist ein Schofar, und warum ist Schofarblasen an einem heiligen Tag wie Rosch Haschana so bedeutend? Ein Schofar ist ein aus dem Horn eines koscheren Tieres gemachtes Blasinstrument. Auch wenn dafür alle koscheren Tiere außer Ochsen und Kühen infrage kommen, ist es allgemeiner Brauch, Schofarot aus dem Horn eines Widders oder Kudus herzustellen.

Es ist allgemeiner Brauch, Schofarot aus dem Horn eines Widders oder Kudus herzustellen.

Zum Ursprung des Namens gibt es verschiedene Meinungen. Im Midrasch »Wajikra Rabba« meinen unsere Weisen, dass »Schofar« vom Wort »schön« stammt: »G’tt sagte zu Israel: ›In diesem Monat sollt ihr eure Taten mit dem Schofar erneuern, verschönert eure Taten (schafru maasechem)‹«.

Rabbi Chaim Vidal (1543–1620) zitiert in seinem Buch »Pri Etz Chaim« im Namen seines Lehrers, des Kabbalisten Arisa’l (Rabbi Jitzhak Luria Aschkenazi) eine andere Erklärung, und zwar, dass dieser Name von »Schoferet« stammt, was ein ausgehöhltes Rohr bedeuten könnte.

Grund In der Tora gibt es mehrere Gebote, für die keine Begründung geliefert wird. Jedoch versuchten unsere Weisen stets, selbst für unverständlichste Mizwot Gründe zu finden. Auch für das Schofarblasen an Rosch Haschana nennt die Tora keinen Grund.

Auffallend ist, dass das Wort »Schofar« im Vers nicht direkt erwähnt wird. Es steht dort lediglich »Jom Trua« (Tag des Klangs). Erst die Rabbinen leiten daraus ab, dass der Schofarklang gemeint ist.

Saadia Gaon (882–942) gibt zehn Gründe für dieses Gebot an. Einer der bekanntesten ist, uns zu wecken und zu erschrecken, wie es der Prophet Amos ausdrückt (3,6): »Wenn das Schofar in der Stadt ertönt, schreckt das Volk nicht auf?«

An Rosch Haschana beginnen die Zehn Tage der Umkehr, die bis Jom Kippur dauern. An diesen Tagen sollen wir Teschuwa machen: unsere Taten überdenken, die schlechten bereuen und uns auf Gutes in der Zukunft besinnen. Da hilft der gellende Schofarklang.

bindung Ein weiterer bekannter Grund ist die Erinnerung an die »Akeda«, die Geschichte der »Bindung« aus dem 1. Buch Mose, als G’tt Awraham befahl, seinen Sohn Jizchak zu opfern. Awraham war bereit, den himmlischen Willen zu erfüllen, jedoch stoppte G’tt in letzter Sekunde die Opferung Jitzhaks. Stattdessen wurde ein Widder geopfert.

Die Klänge des Schofars aus einem Widderhorn sollen G’tt an die Verdienste Awrahams und Jizchaks erinnern und uns beim Himmlischen Gericht unterstützen.

 

Die Klänge des Schofars sollen uns beim Himmlischen Gericht unterstützen.

Auch an die Zukunft sollen uns die Schofartöne erinnern. Zum Beispiel an den bekannten Vers im Propheten Jeschajahu (27,13), der uns das messianische Zeitalter und die Rückkehr nach Israel verspricht: »An jenem Tag wird in das große Schofar geblasen, und es kommen die Verlorenen im Lande Aschur und die im Lande Ägypten Verirrten und bücken sich vor G’tt auf dem heiligen Berge in Jerusalem.«

Doch nicht nur an Rosch Haschana hören wir das Schofar. Schon einen Monat davor, im Monat Elul, werden in den Synagogen nach dem Morgengebet jeden Tag zehn Schofartöne geblasen. Das erinnert uns daran, dass nur noch eine kurze Zeit bis zum Gerichtstag bleibt und wir uns Mühe geben sollen, uns auf diesen Tag vorzubereiten.

Auch am Jom Kippur ertönt das Schofar. Jedoch nicht während des heiligen Tages, sondern nur einmal ganz am Ende des letzten Gebets, was den Abschluss der »Jamim Noraim«, der ehrfurchtsvollen Tage, verkündet und uns auf die fröhlichen Feste Sukkot, Schemini Azeret und Simchat Tora einstimmt.

Wohlwollen Jedoch ist das Schofarblasen nur an Rosch Haschana ein Gebot der Tora. Unsere Weisen unterstreichen, dass diese Mizwa einen großen Effekt im Himmel bewirken kann. Die Zeit nennen sie »Et Razon« (Zeit des himmlischen Wohlwollens), wenn die Tore im Himmel sich öffnen und unsere Gebete den g’ttlichen Thron erreichen können.

Die Wichtigkeit und Bedeutung dieses Gebotes zeigt eine Halacha im Schulchan Aruch (Orach Chaim 595) auf: Wenn es in einer Stadt einen Experten für das Schofarblasen gibt, jedoch niemand fähig ist, das wichtige Mussaf-Gebet durchzuführen, es gleichzeitig in einer anderen Stadt kein Schofar gibt, jedoch ein Gebetsexperte vorhanden ist, soll man in die Stadt gehen, wo das Schofarblasen stattfinden wird.

Rabbi Israel Meir Kagan (»Chofetz Chaim«) bemerkt in seinem Kommentar zum Schulchan Aruch »Mischna Brura«, dass dies sogar dann gilt, wenn man deshalb ohne Minjan betet. Obwohl die Gebete an Rosch Haschana besonders wirkungsvoll sind, hat das Schofar absolute Priorität!

mizwa Deshalb ist es auch gut nachzuvollziehen, warum unsere Weisen großen Wert auf die Vorbereitung zu dieser bedeutenden Mitzwa gelegt haben. In vielen »litwischen« Gemeinden ist es bis heute üblich, dass der Rabbiner zwischen dem Toralesen und dem Schofarblasen eine Rede (Drascha) hält.

Auch manche chassidischen Rebben haben vor Erfüllung der Schofar-Mizwa zu ihren Chassiden über das Schofar gesprochen. So wird über den Pschis’chaer Rebben, Rabbiner Simcha Bunem, berichtet, dass er einfach aus einer Schrift des Rambam (Maimonides) über den Sinn des Schofarblasens vorlas.

Jedoch ist in den chassidischen Gemeinden eher der Brauch verbreitet, davor Psalmen zu sagen oder aus dem heiligen kabbalistischen Werk »Sohar« zu lernen. Manche Rebben sammeln und lesen aus »Kwittlech« (Zetteln) vor, auf denen die Chassidim ihre Bitten vor dem Fest aufgeschrieben haben.

Kuchen Einen einzigartigen und schönen Brauch pflegte der Kerestiener Rebbe Schajele Steiner: Vor den Tekiot, den Schofartönen, schnitt er Kuchen an, damit hungrige Gäste nach dem langen Gebet etwas zu essen bekommen.

Jetzt können wir das Gleichnis des Dubnower Maggid über den letzten Pfeil besser nachvollziehen. Wir verrichten den ganzen Monat Elul vor Rosch Haschana und am Neujahrsfest selbst lange und eindringliche Gebete.

Jedoch kann es sein, dass das alles nicht hilft und die himmlischen Tore zum g’ttlichen Thron für uns verschlossen bleiben. Dann können wir zu unserer letzten Waffe greifen – dem Schofar.

Sein mächtiger Klang, der keine Worte benötigt, sprengt alle Hindernisse und Mauern zwischen G’tt und uns – und beschert uns ein gesundes, erfolgreiches und süßes neues Jahr!

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinden zu Halle und Dessau und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz (ORD).

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