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Ende des Lebens

»Ein jüdisches Hospiz könnte helfen«

Die Berliner Psychologin Sibylle Schuchardt Foto: Marco Limberg

Frau Schuchardt, mehr als 70 Prozent aller Pflegebedürftigen werden zu Hause betreut, nicht in Heimen oder Krankenhäusern. Trifft das auch für die jüdische Gemeinschaft zu, etwa für die Zuwanderer?
Es kann gut sein, dass es gerade unter den Zuwanderern noch mehr Fälle gibt, wo Angehörige zu Hause gepflegt werden, weil die moralische Verpflichtung innerhalb der Familie möglicherweise noch stärker verankert ist, füreinander zu sorgen bis zum Tod. Aber es gibt keine Zahlen, die das belegen – wobei das ein Forschungsgebiet ist, das wir auch ins Auge fassen könnten.

Also stimmt es gar nicht, was oft vermutet wird – dass die meisten Pflegebedürftigen von ihren Familien »abgeschoben« werden?
Nein, das ist ein Vorurteil. Was allerdings stimmt, ist, dass zum Ende des Lebens nicht 75 Prozent der Menschen zu Hause versterben, sondern eher nur ein Viertel, obwohl sich viele Menschen wünschen, zu Hause zu sterben. In die Pflegeheime kommen dann Menschen in einem besonders schlechten Zustand, wenn die Angehörigen entschieden haben, dass sie die Pflege mit ihren familiären Ressourcen nicht mehr alleine bewältigen können.

Liegt es daran, dass die meisten Menschen schließlich doch in Heimen oder in Krankenhäusern sterben?
Ja, zum einen fühlen sich manche Angehörige gegen Ende der Erkrankung hin überfordert oder haben die Sorge, dass die Palliativmediziner ambulant vielleicht nicht optimal für ihre schwerkranken Angehörigen sorgen können. Zum anderen kenne ich auch Fälle von betroffenen Kranken, die sich selbst wünschten, nicht zu Hause zu sterben, weil sie für sich selbst mehr Ruhe brauchten und die Gesichter der trauernden Angehörigen nicht ständig um sich haben wollten. Vielleicht auch, um es der Familie leichter zu machen, weil Menschen gerade am Ende ihres Lebens oft besonders altruistische Züge zeigen und viel Rücksicht nehmen auf die Angehörigen. Das weiß man auch von schwer erkrankten Kindern – manche sterben gerade dann, wenn ihre Eltern das Krankenhaus verlassen haben. Aber das gibt es auch bei Erwachsenen: Manche warten mit dem Sterben, bis ihre Angehörigen kommen, andere wiederum warten, bis die Besucher gegangen sind. Solche erstaunlichen Phänomene geschehen rein intuitiv, das haben mir Angehörige schon oft bestätigt.

Was sind Ihrer Erfahrung nach die stärksten Belastungen für pflegende Angehörige? Häufig sind das ja Menschen, die selbst schon älter sind …
Ich glaube, die ständige Herausforderung ist das Anstrengendste. Man muss immer damit rechnen, dass ein Rufen kommt: Vielleicht hat der Pflegebedürftige ins Bett gemacht, vielleicht ist er hungrig, ihm ist langweilig, oder es drückt irgendwo, und er kann sich vielleicht auch verbal gar nicht äußern und muss sich nonverbal ausdrücken. Dieser ständige Stand-by-Modus ist anstrengend, denn die eigene Entspannung kann jederzeit unterbrochen werden. Und dann kann bei den Angehörigen ein Gefühl entstehen: Ich habe meine eigene Zeit gar nicht mehr in der Hand, ich kann nichts mehr planen, ich muss immer mit dem Schlimmsten rechnen – auch wenn es dann, Gott sei Dank, nicht eintritt, oder jedenfalls nicht an diesem Tag. Dazu kommt natürlich, vor allem für Ältere, auch die körperliche Belastung, sodass dann auch Hauskrankenpflege hinzugenommen wird, weil es nicht zu schaffen ist, den Partner oder die Partnerin aus dem Bett zu bewegen oder ins Badezimmer zu bringen. Und wenn die Einschränkungen bei dem Kranken so groß sind, dass er sich nicht mehr in dem üblichen Maß austauschen kann, ist es natürlich auch ein Trauerspiel, wenn der geliebte Mensch nicht mehr als Partner auf Augenhöhe zur Verfügung steht, weil er nicht mehr antworten oder sich gar keine Gedanken mehr machen kann. Es ist eine große Belastung, wenn das Leben eine so ganz andere Entwicklung nimmt, als man es sich vielleicht vorgestellt hatte.

Zum Beispiel, wenn der Partner dement wird – und ein Abschied von dem Menschen, mit dem man Jahre oder Jahrzehnte zusammengelebt hat, schon vor dem Tod beginnt. Welche Ressourcen braucht ein Mensch, um damit klarzukommen?
Die glücklichste Entscheidung ist es, wenn jemand sagen kann: Ich schaue nur, wie es heute ist. Heute ist ein guter Tag, heute klappt es, heute gibt es ein Lächeln, eine schöne Erinnerung, der Partner erzählt vielleicht noch eine schöne Geschichte aus der Vergangenheit oder erinnert sich an ein Musikstück oder freut sich über den Sonnenaufgang oder ein Stück Kuchen. Es ist natürlich eine große Herausforderung, von der Person, wie sie einmal war – mit ihrer Intelligenz, ihrem Charme, Anmut, Witz, ihrer geistigen Kapazität – Abschied zu nehmen und zu erkennen: Es ist nur noch ein Teil dessen vorhanden, und ich habe kein »Du« mehr in dem Sinn, dass ich einen Dialog auf Augenhöhe führe. Manches nimmt eine ganz andere Qualität an: Manche Menschen, die scharfzüngig und aggressiv waren, werden milde und lieb – das kann ein Gewinn sein. Andere, die sich nie negativ geäußert haben, werden vielleicht reizbar, weil sie zu Beginn der Krankheit sehen, was sie nicht mehr können: Gerade Männer empfinden es als großen Verlust, nicht mehr Auto zu fahren, weil sie sich nicht mehr autonom fühlen. Damit umzugehen, ist nicht nur für den Betroffenen schwierig, sondern auch für die Angehörigen. Hinzu kommt, dass manche Familien in eine soziale Isolation geraten, je schlimmer die Krankheit sich entwickelt, weil niemand mehr so recht Freude daran hat, einen Besuch abzustatten, bei dem er alle fünf Minuten dasselbe gefragt wird. Das hält nicht jeder gleich gut aus, und oft bleiben nur die besten Freunde übrig und die Angehörigen. Um das zu ertragen, ist eine gute Gemütslage nötig und Unterstützung von außen, sodass Pflegende auch mal eine Auszeit haben, etwas unternehmen und auftanken können.

Was muss die Gesellschaft tun, um pflegende Angehörige zu unterstützen?
Die Politik ist mittlerweile aufgewacht, die Krankenkassen sind auch aufgewacht, es gibt Kontaktpflegestellen, es gibt Pflegestützpunkte, es gibt ambulante Krankenpflege, und das Thema ist jetzt endlich in der Öffentlichkeit. Pflegende werden dringend gesucht, aber nur schwer gefunden. Und man wird neue Modelle entwickeln müssen, damit Angehörige eine Lohnfortzahlung erhalten, damit sie frei bekommen für Pflege, und damit sie auch mit der Rentenversicherung nicht in Rückstand geraten, sodass der Altersarmut kein Vorschub geleistet wird. Und was wir nicht vergessen dürfen: Es gibt auch chronisch kranke Kinder und Jugendliche, die vielleicht für eine lange Zeit sehr intensiv gepflegt werden müssen. Das ist etwas, was insbesondere die Mütter dazu bringt, ihren Beruf nicht ausüben zu können. Ich fände es wichtig, dass diese individuelle Pflege auch anerkannt und entsprechend vergütet wird. Es geht um eine gesellschaftliche Anerkennung von Pflege, ganz gleich, ob es nun Kinder oder alte Menschen sind. Sie muss wertgeschätzt werden, und der Pflegeberuf per se muss eine höhere Wertschätzung erfahren als bisher.

Sie haben in Ihrem Vortrag beim Seminar »End of Life« Ende Mai in Berlin erwähnt, dass oft gerade diejenigen Kinder ihre Eltern pflegen, die kein gutes Verhältnis zu ihnen hatten. Woran liegt das?
Dazu kenne ich keine statistischen Erhebungen, aber meistens sind es Töchter oder die Schwiegertöchter, die pflegen. Im Wesentlichen bleibt es zumeist den Frauen der Familie überlassen. Ich habe oft mit Klienten die Erfahrung gemacht, dass sich die vermeintlich weniger geliebten Kinder deshalb so um ihre Eltern bemühen, um auf dieser Wegstrecke die Zuneigung und die Wertschätzung zu bekommen, die sie über Jahrzehnte vermisst haben. Und sie glauben, wenn sie jetzt Gutes tun, sehen ihre Eltern endlich, was sie für wunderbare Kinder haben. Leider werden diese Erwartungen nicht selten enttäuscht. Es gibt sicherlich Situationen, in denen Eltern aufmerken und feststellen: Mein Kind ist ja doch viel liebenswerter, als ich es jemals wahrgenommen habe. Aber Kinder sollten an Pflege nicht mit der Erwartung herangehen, beschenkt zu werden. Vielleicht werden sie beschenkt, vielleicht auch nicht. Und es ist legitim zu sagen: Ich schaffe es seelisch nicht, meine Eltern weiter in der Form zu ertragen, und die Pflege in professionelle Hände abzugeben, wo man die Eltern gut versorgt weiß.

Wie können wir generell den Herausforderungen einer alternden Gesellschaft be­gegnen?
Man könnte zum Beispiel innerhalb eines Wohnhauses mehr Gemeinschaftsgefühl entwickeln. Man könnte für die alte Nachbarin einkaufen oder mal nach ihr sehen oder ihr sagen: Sie können bei mir klingeln, wenn es Ihnen nicht gut geht. Es wäre eine große Hilfe, wenn in den Kiezen näher zusammengerückt würde. In der Tat gibt es in Berlin viele über Hundertjährige, und erstaunlicherweise leben manche von ihnen noch zu Hause. Aufsuchende Pflege ist hier vielleicht das Zauberwort. Es ist eben nicht so, dass alle Menschen über lange Zeit in einem Pflegeheim dahinsiechen. Sondern manchmal wird auch kurzfristig gestorben. Aber die Unterstützung durch verschiedene Einrichtungen wird in Zukunft noch wichtiger werden als bisher. Ich sehe es prinzipiell als Segen, dass wir durch die Medizin älter werden – und auch länger gesünder bleiben.

Welchen Beitrag kann die jüdische Gemeinschaft leisten, um Pflegebedürftige und ihre Angehörigen zu unterstützen?
Es gibt natürlich Gruppen, die sich um Pflegebedürftige kümmern und sie auch besuchen. Gerade Hospizhelfer sind eine sehr gut ausgebildete Gruppe, die im Hospiz das Fachpersonal sehr intensiv unterstützt. Und es gibt Bikkur-Cholim- und Chesed-Gruppen – ich gehöre einer solchen Gruppe innerhalb der Synagoge Oranienburger Straße an. Wir schauen, wer einen Besuch zu Hause braucht, wen wir im Krankenhaus besuchen können, und wer einen Briefkontakt nötig hat. Wichtig ist für jeden Menschen, dass er nicht in der Angst lebt: Ich bin hier ganz alleine, und niemand kommt. Denn die größte Sorge ist, vergessen zu werden.

Können Sie aus Ihrer Praxis ein Beispiel nennen, wo der Abschied innerhalb einer Familie gut gelungen ist?

Ich habe ein altes Ehepaar in Erinnerung, wo die Frau ein Krebs-Rezidiv hatte, und die Tochter der Frau war Krankenschwester auf einer Intensivstation und konnte sich sehr lange um ihre Mutter kümmern – sie hat das auch gerne getan. Der ambulante Pflegedienst einer Palliativstation kam regelmäßig. Der Ehemann hatte eine beginnende Demenz, war aber noch so weit gut in der Lage, seiner Frau beizustehen. Und die Frau, was ich ganz großartig fand, hatte dann den Mut zu sagen: Ich möchte in ein Hospiz. Ich möchte nicht, dass du und die Kinder euch für mich aufopfert, ich möchte in Ruhe und Frieden sterben. Sie war dort eine Woche lang, und alle konnten sich in Ruhe verabschieden und waren bis zum Ende bei ihr, ohne dass sie in der häuslichen Situation überfordert worden wären. Das fand ich eine sehr glückliche Lösung, mit der alle einverstanden waren. Und dann ist auch die Trauerarbeit leichter zu bewältigen, wenn man weiß, dass der Betroffene sich diesen Abschluss selbst gewünscht hat.

Hätte es Sinn, ein jüdisches Hospiz in Deutschland zu gründen?
Wenn es genügend Menschen gibt, die sich für diesen Gedanken einsetzen, könnte ich mir das sehr gut vorstellen. Insbesondere weiß ich, dass es die schrecklichste Vorstellung von Schoa-Überlebenden ist, im Krankenhaus neben einem Nazi zu liegen. Diese Gefahr wäre in einem jüdischen Hospiz gebannt. Und für Menschen, die im Glauben stärker verankert sind, könnte es sicherlich eine schöne Situation sein, wenn die Rabbinerin oder der Rabbiner vorbeischaut, und wenn die Menschen, die dort arbeiten, mehr vom Jüdischsein verstehen – wenngleich ich der Meinung bin, dass in allen Hospizen ein spiritueller Geist herrscht, der auf jede Religionszugehörigkeit Rücksicht nehmen würde. Aber in einem jüdischen Hospiz würden diejenigen arbeiten, die wüssten, was die richtigen Worte zur richtigen Zeit wären. Als Jüdin oder Jude müsste ich dann nicht darüber nachdenken, wo ich hingehe, wenn die Zeit gekommen ist: Wenn das jüdische Hospiz das beste und schönste wäre und dasjenige, das am meisten Mitmenschlichkeit ausstrahlt, dann wäre auch ich dort gut aufgehoben.

Sie haben in Ihrem Vortrag Psalm 90 zitiert: »Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.« Sind Krankheit und bevorstehender Tod für Juden eine Gelegenheit, sich der Tradition wieder stärker zuzuwenden – auch für diejenigen, die nicht als eifrige Synagogengänger bekannt sind?
Wir wissen, dass schwerkranke Menschen sich generell stärker zu Spiritualität hingezogen fühlen. Es ist ja auch ein Anker, ein sicherer Hafen und eine Möglichkeit, einen Sinn darin zu sehen, was geschieht – dass es vielleicht eine höhere Instanz gibt, die für mich sorgt und weiß, was für mich gut ist. Das kann für den Betroffenen, aber auch für die Angehörigen eine Hilfe sein, sich zu sagen: Es gibt einen großen Plan, und wir hier unten können nicht alles entscheiden, lösen und heilen. Ja, Spiritualität spielt bei Krankheit eine Rolle – aber das gilt nicht für jeden.

Mit der Berliner Psychologin, Familientherapeutin und Poesiepädagogin sprach Ayala Goldmann.

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