Viele Frauen und Männer, die den Holocaust überlebt haben, betrachten es als eine heilige Pflicht, die leidvolle Holocaust-Geschichte ihrer Familie zu erzählen. Der berühmte italienische Schriftsteller Primo Levi (1919–1987) hat sich für den Fall einer Nichterfüllung dieser Pflicht drastische Strafen ausgedacht: »Ihr sollt sie einschärfen euren Kindern. Oder eure Wohnstatt soll zerbrechen, Krankheit soll euch niederringen, eure Kinder sollen das Antlitz von euch wenden.«
Levis Mahnung, von der Katastrophe zu erzählen, hat den amerikanisch-jüdischen Psychoanalytiker Henri (Aron) Parens (Jahrgang 1928) offensichtlich sehr bewegt, denn er zitiert die angedrohten Strafen mehrfach in seiner lesenswerten Autobiografie, die Susan Jones nun ins Deutsche übersetzt hat.
Parens erzählt seine Lebensgeschichte mit einer Aufrichtigkeit, die außergewöhnlich ist. Der Autor bemüht sich um eine gewisse Vollständigkeit und erwähnt auch solche Tatsachen, die viele andere Autoren weggelassen hätten, weil sie unrühmlich sind. Sein Buch ist klar gegliedert. Im ersten Teil schildert Parens, was während des Holocaust mit seiner Welt passiert ist.
Reflexion Den zweiten Teil füllen ernste Reflexionen über das Geschehene und seine Folgen, die Parens 60 Jahre später zu Papier brachte. Im dritten und letzten Teil berichtet der Verfasser über seine wissenschaftlichen Studien, die ihn zu der Überzeugung gebracht haben: »Wir können handeln, um maligne Vorurteile und Gewalt zu verringern.«
Wie hat Parens den Holocaust erlebt? Im Sommer 1940 floh er mit seiner Mutter von Brüssel (Belgien) nach Frankreich. Dort wurden sie in ein Konzentrationslager gesteckt. Auf Anraten der Mutter floh der Knabe aus dem Lager im Rivesaltes und gelangte in ein jüdisches Jugendheim. 1942 brachte ihn ein Kindertransport nach New York. In Amerika lebte er bei einer jüdischen Familie, die ihn freundlich aufnahm. Seine geliebte Mutter hat er nie wiedergesehen; wie Parens später erfuhr, hat man sie nach Auschwitz deportiert und dort umgebracht. Ermordet wurden vermutlich auch sein Vater und der ältere Bruder Emanuel, von denen im Buch ein Foto abgedruckt ist.
Psychoanalytiker Der Autor war knapp 14 Jahre alt, als er in die USA kam. Dort gelang es ihm, eine Familie zu gründen, auf die er sehr stolz ist. Als Professor für Psychiatrie und als Psychoanalytiker hat Parens sich einen guten Namen gemacht. Doch das in der Kinderzeit Erlebte hat ihn nie losgelassen. Parens berichtet am eigenen Beispiel über Folgebelastungen dessen, was Juden in Europa damals widerfuhr. Besonders aufschlussreich ist das Unterkapitel »Meine Probleme mit Gott und der Liturgie«.
Tun und Lassen des Autors muss der Leser mit Respekt zur Kenntnis nehmen. Doch es darf gesagt werden, dass seine Ausführungen zur Gretchenfrage den Rezensenten nicht immer überzeugt haben. So sind die Erklärungsversuche von Parens, warum seine Söhne (im Gegensatz zu ihm) nicht Barmizwa feierten, nur schwer nachzuvollziehen.
An einer Stelle argumentiert Parens sehr rabiat: »Eine komplexere Angelegenheit ist die Tatsache, dass ich eine Nichtjüdin geheiratet habe. Ich sage das ohne jedes Bedauern. Und keiner soll mir unterstellen, es sei meine Absicht gewesen, dem Andenken oder Nacherleben des Holocaust auszuweichen. Oder das eigene Judentum zu verwässern. Verflucht sei, wer das denken könnte.« Haben wir es hier mit einer Selbstverfluchung zu tun? Ja, denn nicht irgendein Leser hatte den Einfall einer »Verwässerung des Judentums«; diese Wertung stammt vom fluchenden Verfasser!
Interpretation Die jüdische Liturgie missfällt Parens deshalb, weil es im Gebetbuch heißt, »Juden seien das auserwählte Volk, wobei auserwählt im alltäglichen Sinn doch bedeutet, man sei etwas Besseres«. Warum beharrt Parens auf einer falschen Interpretation der Auserwählungslehre? Sein geliebter Sohn Joshua hat Parens doch die richtige Interpretation beigebracht: Juden wurden auserwählt, um das Gesetz zu hüten. Wer zahlreiche Gebote und Verbote der Tora nicht haben will, weil sie nur für Juden gelten, der möchte im Grunde das überlieferte Judentum abschaffen.
Auch folgende Feststellung des Autors verdient eine kritische Randbemerkung: »Zweifellos würden mich Orthodoxe völlig abschreiben.« In Wirklichkeit kann und wird niemand das Judesein von Henri Parens bestreiten. Ihm steht wie jedem anderen Menschen der Weg der Umkehr offen.
Henri Parens: »Heilen nach dem Holocaust. Erinnerungen eines Psychoanalytikers«. Psychosozial-Verlag, Gießen 2017, 319 S., 34,90 €