Eine chassidische Geschichte erzählt von einem kleinen Jungen, der einst zu Jom Kippur in eine Synagoge kam. Die Synagoge war voller Menschen, die inbrünstig beteten. Doch anscheinend wurden ihre Gebete nicht erhört – die Tore des Himmels schienen verschlossen.
Der kleine Junge trat schüchtern zu den Männern, die ihn gar nicht beachteten. Er beobachtete sie und sah, wie intensiv und vollen Herzens sie ihr Gebet sprachen. Nun wollte er genau dasselbe tun, nur konnte er es nicht. Er hatte gerade das Alef-Bet, das hebräische Alphabet, gelernt. Richtig lesen fiel ihm noch schwer. Und so entschied er sich, das aufzusagen, was er wirklich gut konnte: das Alef-Bet.
alef-Bet Nachdem er das getan hatte, rief er zu Gott: »Ewiger, das ist alles, was ich kann. Bitte ordne die Buchstaben richtig an, denn Du allein weißt, wie die Gebete sich anhören müssen.« Dieses einfache Gebet stieg bis nach oben vor den Thron des Ewigen. Und siehe da, plötzlich öffneten sich umgehend die Tore des Himmels, und alle Gebete wurden wieder erhört.
Auch wir wollen, dass alle unsere Gebete von Gott erhört werden. Doch wie in der kleinen chassidischen Geschichte wissen wir nicht, ob sie wirklich von Gott angenommen werden. Außerdem ist der Zeitraum, den wir uns ausgesucht haben, bedenklich knapp: An Rosch Haschana beginnt ein neues Jahr, und wir hoffen, dass Gott uns gerade jetzt erhört, kurz bevor sich zu Jom Kippur die Tore des Himmels schließen und Gott sein Urteil über uns für das nächste Jahr besiegelt.
Doch warum warten wir so lange? Wäre es nicht besser, sich das ganz Jahr über Gedanken darüber zu machen, wie Gott unsere Gebete aufnimmt? Ist es gut, alles auf eine Karte zu setzen, in der Hoffnung, Gott müsse uns jetzt zuhören und unsere Gebete sofort annehmen? Ist es denn aufrichtig Gott und uns selbst gegenüber, so lange zu warten? Was passiert, wenn uns plötzlich die innere Kawana, die Inbrunst und Aufrichtigkeit, im Gebet fehlt?
Der Monat Elul, der Monat vor Rosch Haschana, und die zehn Tage zwischen Neujahr und Jom Kippur gelten als die 40 Tage der Teschuwa, der Umkehr und Rückkehr zu Gott. Der Ewige ist in dieser Zeitperiode empfänglich für Reue und Umkehr, soweit wir ernsthaft und aufrichtig Teschuwa üben. Die Frage, die wir uns jetzt aber stellen müssen, ist: Wie praktiziere ich Teschuwa richtig, und welche Rolle spielt eigentlich Kawana?
Teschuwa Bei der Teschuwa sind drei Dinge zu beachten: Abkehr von der Sünde, aufrichtige Reue und ein Bekenntnis der begangenen Sünde. Wir kehren ab von unseren Sünden, wenn wir uns nicht nur gedanklich von ihnen distanzieren, sondern unsere sündige Handlung sowohl in der Gegenwart als auch in der Zukunft ablegen.
Bei der Reue handelt es sich um ein Gefühl, das nur vom Herzen her verstanden werden kann. Es ist genau so, als würde man versuchen, die Liebe zu den Eltern erklären zu wollen. Ebenso verhält es sich bei der Reue: Der Mensch versteht ja gefühlsmäßig, dass er Gott verlassen hat, und seine Gedanken kreisen darum, wie er wieder zu Gott zurückfinden kann.
Beim Bekenntnis der Sünde ist die Verbalisierung wichtig. Habe ich mit der Reue ein inneres Gefühl thematisiert, ist dann das konkrete Ansprechen des falschen Weges wichtig. Nicht zu vergessen ist: All diese Wege der Teschuwa gelten nur in Bezug auf Verfehlungen Gott gegenüber. Habe ich mich Menschen gegenüber falsch verhalten, dann kann ich mich nur durch ein direktes Zugehen und Um-Verzeihung-Bitten meiner Schuld entledigen. Bei der Kawana, der inneren Hingabe im Gebet, ist Aufrichtigkeit von Belang.
Und das macht ein Gebet vor »Torschluss« so gefährlich. Egal, was wir tun, es braucht eine innere Natürlichkeit und Ehrlichkeit uns selbst gegenüber. Viele Dinge in der Welt müssen erst durch den Prozess eine innere Haltung des Verstehens durchlaufen – und das braucht Zeit.
Reflexion Dies ist sehr wichtig, wenn man seine Kawana beim Gebet aufbaut. Wir können nicht von null auf hundert immer alles sofort verstehen und umsetzen. Genauso ist es mit unseren Gefühlen für Verfehlungen: Wir sind festgefahren und sehen unsere Sünden nicht sofort. Darum benötigen wir Zeit für eine Reflexion, um uns dadurch wieder auf einen anderen Weg zu begeben. Je früher wir also ehrlich mit uns selbst ins Gericht gehen, desto früher werden unsere Gebete erhört.
Genauso ist es bei dem kleinen Jungen in der chassidischen Geschichte: Er suchte ehrlich nach einem Weg, und deshalb wurde seine Bitte erhört. Seine Kawana war rein, und sein Gebet richtete sich an Gott, ohne Druck auszuüben. Das wortgewandteste Gebet hätte seinem einfachen Aufzählen der Buchstaben nicht standhalten können. Es ist diese innere Einstellung, die zum Erfolg führte und uns als Beispiel für unsere Gebete dienen kann.