10. Tewet

Ein Fasttag mit vielen Bedeutungen

Sicht auf die Kotel: Auf dem großen Vorplatz beten Männer und Frauen getrennt. Rechts von der Mughrabi-Brücke, die auf den Tempelberg führt, gibt es eine kleine Plattform für das gemischte Gebet. Foto: imago

Manche jüdische Feiertage sind bekannter, während andere weniger Popularität genießen. Zu den Letzteren gehört der kürzeste Fasttag des Jahres, der 10. Tewet, der diesmal auf Dienstag, den 7. Januar, fällt.

Allgemein bekannt ist, dass am 9. Aw der Erste als auch der Zweite Tempel zerstört wurden. Beide Tempel waren gigantische Bauwerke, und Jerusalem war sowohl zur Zeit der Zerstörung des Ersten als auch des Zweiten Tempels eine wichtige Stadt, die von einer mächtigen Mauer umgeben war. Entsprechend fand die Zerstörung der Stadt nicht in einem einzigen Augenblick statt, sondern die Stadt wurde zuerst während vieler Monate belagert.

Propheten Der 10. Tewet ist der Tag, als das babylonische Heer bei Jerusalem ankam und die Belagerung der Stadt einleitete (II. Könige 25, 1–2, Jirmejahu 52, 4–5). Anderthalb Jahre später, am 9. Aw, zerstörte Nebukadnezar den Tempel. Erst sechs Monate später, am 5. Tewet, erfuhr der Prophet Jecheskel von der Zerstörung (Jecheskel 33,21).

Damit gewinnt der Fasttag des 10. Tewet eine doppelte Bedeutung: Er ist sowohl das traurige Jubiläum des Anfangs vom Ende als auch der Jahrestag der traurigen Nachricht von der Zerstörung, die Babylons Juden erreichte (siehe Babylonischer Talmud, Rosch Haschana 18b).
Anders als im Zusammenhang mit dem 17. Tamus und dem 9. Aw weiß unsere Tradition nichts von zahlreichen Ereignissen, die sich ebenfalls am 10. Tewet ereigneten. Dennoch gedenken wir weiterer historischer Begebenheiten, die zeitnah – aber in anderen Jahrhunderten – geschahen.

Septuaginta Der Tradition nach wurde die Septuaginta, die erste Übersetzung der Tora ins Griechische, am achten Tag des Monats Tewet vollendet.

Die Septuaginta war das erste Kulturwerk, durch das der Verlust der Hebräischkenntnisse der hellenisierten, ja assimilierten Juden von Alexandrien in Ägypten greifbar wurde. Eine Übersetzung ist nie perfekt und kann das Original nicht ersetzen, aber das Original war eben für viele Juden nicht mehr verständlich, was sehr traurig ist.

Der Tag erinnert an den Anfang der Zerstörung Jerusalems.

Außerdem bedeutet eine Übersetzung immer, dass Menschen den Text durch selektive Zitate falsch verstehen können oder dass er böswillig ausgelegt wird. Dass Antisemiten den Talmud durchsuchen, um irgendwelche Zitate aus ihrem Kontext zu reißen und das Judentum schlechtzumachen, hat inzwischen leider eine jahrhundertealte Tradition.

Bücherverbrennung Die erste Bücherverbrennung, die Talmudverbrennung von 1240 auf dem Platz vor der damals nagelneuen Kathedrale von Notre-Dame in Paris, war die Folge der Verleumdungen eines getauften Juden namens Nicholas Donin, die auf aus ihrem Zusammenhang gerissenen Zitaten des Talmud basierten.

Dennoch scheuen wir uns heute nicht vor Toraübersetzungen, weil wir mit jeder neuen Übersetzung die Tora auch für mehr Juden zugänglicher machen. Das war aber nicht immer so, und deshalb wurde die Vollendung der griechischen Übersetzung des Pentateuchs als Tragödie eingestuft.
Rabbi Jaakow Ba’al haTurim schrieb im 14. Jahrhundert (Tur Orach Chajim 580): »Am achten Tag des Tewet wurde die Tora ins Griechische übersetzt – das war zur Zeit des König Ptolemäus, und die Welt geriet drei Tage in Finsternis.«

So kommt es, dass der 8. Tewet als freiwilliger Fasttag gilt. In der Annahme, dass kaum jemand zweimal innerhalb dreier Tage fasten wird, erwähnen die besonderen Selichot zum 10. Tewet auch die Vollendung der griechischen Toraübersetzung.

Merkwürdig ist dabei, dass auch der 9. Tewet als freiwilliger Fasttag gilt (siehe das erwähnte Kapitel des Tur). Er kommt in einer langen Liste freiwilliger Fasttage vor, fällt aber auf, weil der Tur und der Schulchan Aruch mitteilen, dass der Grund für diesen Fasttag unbekannt ist.

Schimon Rabbiner Shneier Zalman Leiman von der Yeshiva University und der City University of New York belegt hingegen, dass dieser Fasttag auf einer geheimnisvollen Tradition beruht. Er soll der Todestag eines gewissen Schimon Kalponi oder Simon Kaiaphas sein, der zu einer Zeit lebte, als das Christentum noch eine jüdische Sekte war.

Schimon war Teil des höchsten Rabbinerkollegiums, das wegen der Gefahr christlicher Missionare sehr besorgt war. Als die Rabbiner einen Weg suchten, um die Missionare abzuwehren, meldete sich Schimon zu Wort. Er sagte, die Bedrohung sei groß und bedürfe einer außergewöhnlichen Lösung.

Am 10. Tewet spricht man auch Kaddisch für Schoa-Opfer mit unbekanntem Todesdatum.

Sein Vorschlag: Er wolle sich der neuen Sekte anschließen und die Christen in eine neue Richtung lenken, damit sie Römer und Griechen missionierten, aber keine Juden. Die Rabbinerkollegen waren einverstanden. Schimon eiferte, um das Christentum für Nichtjuden zu öffnen und vom Judentum abzuwenden, was auch geschah.

Nischmat Damit die große Tat von Schimon nicht vergessen wird, wurde sein Todestag als freiwilliger Fasttag eingeführt. Allerdings wurde die Bedeutung des Feiertags geheimgehalten, um keinen gewalttätigen Antijudaismus zu erregen. Sein literarisches Erbe ist das Nischmat-Gebet, das wir am Schabbat am Ende der Pessukej deSimra (Lobverse) sprechen.

Die fünf Strophen des Textes bilden ein Akrostichon, das rückwärts gelesen »Schimon« lautet. Das Wort »Nischmat« weist demnach auf den letzten Buchstaben Nun von Schimon hin. Dieser Tradition zufolge brachte es Schimon in der Kirche sehr weit – er wurde angeblich Peter, der erste Papst.

Allerdings wird der 10. Tewet als ein so wichtiger Fasttag angesehen, dass er auch dann eingehalten wird, wenn er auf einen Freitag fällt – obwohl üblicherweise Schabbatvorbereitungen wichtiger sind als Fasten. Rabbiner David Avudraham (14. Jahrhundert) erklärt dies damit, dass der 10. Tewet an den Anfang der Zerstörung erinnert. Obwohl das Fasten am 10. Tewet weniger lang vorgeschrieben ist als am 9. Aw, sind die Vorschriften in dieser Hinsicht also strenger.

Allerdings fängt der Fasttag nicht schon am Abend an, sondern erst mit der Morgenröte, und dauert dann bis Einbruch der Nacht. Verboten sind im Gegensatz zum 9. Aw und Jom Kippur auch nur Essen und Trinken, nicht aber Lederschuhe, das Waschen und der Geschlechtsverkehr.

oberrabbinat 1950 wählte das Oberrabbinat Israels den 10. Tewet aus, um an diesem Tag jener Märtyrer unseres Volkes zu gedenken, deren Todestag unbekannt ist. An diesem Tag soll auch für jene Opfer der Schoa, deren Todestag nicht bestimmt werden kann, Kaddisch gesagt werden.
Auf die vier Fasttage hinweisend, die wegen der Zerstörung des Tempels eingeführt wurden, prophezeite Secharja:

»So spricht der Ewige der Heerscharen: Das Fasten im vierten Monat (Tamus), das Fasten im fünften Monat (Aw), das Fasten im siebenten Monat (Tischrej, Zom Gedalja) und das Fasten im zehnten Monat (Tewet) soll dem Hause Juda zur Freude und Wonne werden und zu angenehmen Festtagen. Liebet ihr nur die Wahrheit und den Frieden!« Diese Prophezeiung wird sich verwirklichen, wenn der Maschiach kommt, mögen wir alle diesen Tag erleben.

Der Autor ist orthodoxer Rabbiner in Wien und Mitglied des Vorstandes der Europäischen Rabbinerkonferenz.

 

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