Herr Grözinger, Martin Buber ist in Deutschland sehr bekannt. Menschen, die mit Raschi oder Maimonides nichts anfangen können, fällt zum Thema jüdische Denker Martin Buber ein. Neben den chassidischen Geschichten ist das Büchlein »Ich und Du« von 1923 besonders bekannt. Ist es das Stichwort »Dialog«, das Buber so populär gemacht hat?
»Ich und Du« ist in der Tat das zentrale Werk. Dieses Büchlein atmet keinerlei jüdische Religiosität. Es ist ein Stück deutscher oder europäischer Philosophie. Buber beschreibt dort, wie sich zwischen zwei Menschen oder auch Tieren ein dialogisches Geschehen entwickelt. Es geht um mehr als die Addition zweier Menschen. Im Dialog entsteht eine neue Einheit. Buber geht sogar noch weiter. Das Geschehen zwischen den zwei Personen soll das Ewige, das Göttliche, die Transzendenz sein. Diese dialogische Situation hat mit dem traditionellen Judentum wenig zu tun.
Warum?
Die jüdische Theologie hat immer große Veränderungen erlitten oder erfahren. Man interpretierte sie immer wieder neu. Auch Buber hat eine solche Neuinterpretation vorgenommen. Er hat sich dabei fast gar nicht auf die jüdischen Quellen bezogen. Auch nichtjüdische Hörer und Philosophen konnten seine Werke verstehen. Viele Menschen haben geglaubt, Bubers Dialogphilosophie sei originäres jüdisches Denken. Das Judentum war plötzlich ganz nahe an das europäische Denken herangekommen. Ein Dialog mit diesem Judentum schien das Leichteste auf der Welt.
Das »dialogische Prinzip«, das Buber in »Ich und Du« propagiert, soll in sehr unterschiedlichen Bereichen gelten: Es soll die persönlichen Beziehungen heilen, es gilt zwischen Mensch und Gott, es soll sogar in der Politik helfen. Glaubte Buber denn, die Weltformel gefunden zu haben?
Das ist leider so. Als nach dem Zweiten Weltkrieg Tausende DP-Flüchtlinge in den Lagern saßen und hofften, möglichst schnell an einen sicheren Ort zu gelangen, haben die amerikanische und die britische Regierung eine Kommission nach Palästina geschickt, um mit den dortigen zionistischen Führern zu sprechen. Die politischen Zionisten traten dafür ein, einen jüdischen Staat zu gründen und die Souveränität zu erlangen. Denn dann konnte man die Flüchtlinge ins Land holen, ohne jemanden fragen zu müssen. Die Beschränkungen der Briten würden dann fallen.
In dieser Situation hat sich Martin Buber in die Kommission gedrängt und dort die Stimme erhoben. Er hat dagegen plädiert, dass es einen Staat Israel geben sollte. Warum?
Weil er der Überzeugung war, dass der Zionismus eine dialogische Speerspitze sein sollte. Sie sollte die Begegnung der Individuen genauso umfassen wie die Gesellschaft. Buber wollte keine »jüdische Gesellschaft«, sondern eine »jüdische Gemeinschaft«. Gemeinschaft beruht auf persönlichen willentlichen Beziehungen. Jeder kennt jeden, jeder liebt jeden. Zu einer Gesellschaft gehört man zwangsweise. Das dialogische Prinzip sollte auch noch das Verhältnis zwischen Juden und Arabern verändern. Buber glaubte, dass Politik bei allen diesen Anliegen störe.
War Martin Buber politisch naiv?
Sehr naiv. Seine, sagen wir, von der Realpolitik abgewandte literarische und philosophische Lebensweise hat Buber in Deutschland so große Resonanz im Nachkriegsdeutschland eingebracht. Buber hat nach der Schoa eine Begegnung mit Martin Heidegger herbeigeführt, um mit ihm einen »Dialog« zu führen. Dabei war Heidegger durch seine Sympathien mit dem Nationalsozialismus beschmutzt und keine Person mehr, mit der man sich als Jude auseinandersetzen konnte. So sah es zumindest Emil Fackenheim, der große Chronist und Theologe des Holocaust. Nach der Darstellung von Fackenheim hat Buber den großen Heidegger sehr verehrt, während Heidegger offenbar so getan hat, als wäre Buber jemand, den man nicht kennen muss. Skandalös ist, dass in diesem Dialog das Hauptproblem ausgeklammert wurde: Buber und Heidegger haben nicht über den Holocaust gesprochen.
Das klingt nicht gerade positiv ...
Es tut mir leid, dass vieles so negativ klingt, was ich hier sage. Wenn der Abstand größer wird, muss man auch Kritisches sagen. Damit wird das Denkmal Buber nicht umgestoßen.
Wie authentisch ist Bubers Bild vom Chassidismus?
Buber hat einen Neo-Chassidismus geschaffen und ein kreatives Missverstehen der Texte herbeigeführt. Er hat die Geschichten neu erzählt und so abgeändert, dass sie hier im Westen auf eine große Resonanz stießen. Er hat eine westeuropäische Befindlichkeit in die Geschichten hinein getragen. Vor allem in den christlichen Kirchen haben die Nach- und Neuerzählungen einen großen Anklang gefunden. Wenig Resonanz haben Bubers Geschichten in jüdischen Kreisen bekommen, bei religiösen Juden schon gar nicht. Dort hat man gesehen, dass die religiöse Realität des Chassidismus und Bubers Geschichten zwei verschiedene Dinge sind.
Was ist denn der Unterschied?
Martin Buber stellt heraus, dass im Chassidismus eine neue »Heiligung des Alltags« stattfinde. Wenn ein Schreiner einen Tisch herstellt und dabei ganz auf seine Arbeit konzentriert ist, dann ist das die richtige , die einheitliche Hinwendung zur Sache. Buber sagt, der Chassidmus richte sich auf den Alltag des Menschen, die irdische Welt mit all ihrer Materialität.Tatsächlich geht es im Chassidismus nicht um Konzentration auf den Tisch. Der Chassid glaubt, im Tisch sei die transzendente Wirklichkeit der Gottheit vorhanden. Es geht nicht um Hinwendung zum Alltag und zur Materialität , sondern zur Transzendenz des allbelebenden Gottes im Jenseits. Da der Chassidismus eine Art Pantheismus vertreten hat, soll in allem in dieser Welt die Gottheit anwesend sein. Der Alltag dient nur dazu, sich dem idealen Jenseits der Göttlichkeit zuzuwenden. Am Ende ist das eine Abwendung von der Welt – und keine Hinwendung, wie Buber es will.
Mit dem Judaisten und Religionswissenschaftler sprach Gerald Beyrodt.