Der Patriarch Jakow macht sein Testament. Zuerst ruft er Josef zu sich, denn Jakow will von ihm etwas, wozu ihm nur dieser eine Sohn verhelfen kann, der in besonderer Beziehung zum Pharao steht. Es ist eine politische Angelegenheit: Begrabe mich nicht in Ägypten, sondern im Land Kena’an, dort, wo meine Vorfahren begraben sind und wo auch Lea begraben ist. Vermutlich argwöhnt er, man werde ihm ein Staatsbegräbnis in Ägypten zukommen lassen, ihm als Vater des Vizekönigs. Doch das will er nicht.
Jakow fühlt sich nur als Gast in diesem fremden Land. Hat ihm der Ewige damals in Lus nicht das Land Kena’an als Erbe für seine Nachkommen verheißen? Die Familie wird also einmal wieder dorthin zurückkehren. Dann will Jakow nicht dort begraben sein, wo ihn keiner kennt und wo auch seine Familie nicht mehr lebt. Und wenn nun die Familie wieder nach Kena’an zurückkehrt, würden Josef und seine Nachkommen dann womöglich in Ägypten bleiben? Vielleicht ist diese Überlegung mit ein Grund dafür, dass Jakow die beiden ältesten Söhne Josefs adoptiert.
Jakow weiß es noch nicht, aber es wird noch sehr lange dauern, bis sich die Familie mit ihren zahlreichen Nachkommen auf den Weg zurück nach Kena’an macht.
Warum Jakow die beiden ältesten Söhne Josefs adoptiert.
Als am Ende unseres Wochenabschnitts schließlich auch Josef stirbt, ist klar, dass diese Rückkehr in weiter Ferne liegt. Und Josef, anders als sein Vater, wird tatsächlich in Ägypten bestattet werden, allerdings mit dem Versprechen: Wenn ihr einmal wieder hinaufzieht nach Kena’an, dann nehmt meine Gebeine dorthin mit zurück.
Am Ende seines Lebens blickt Jakow zurück und erinnert sich. An die Verheißung in Lus. An den Tod von Rachel bei der Geburt des jüngsten Sohnes. Seine Rachel hat Jakow damals am Wegrand bei Bet Lechem begraben, doch Lea in der Höhle Machpela bei seinen Eltern und Großeltern. Und er selbst will ebenfalls dort begraben werden.
Bet Lechem und die Höhle Machpela waren damals nur etwa eine Tagesreise voneinander entfernt. Warum hat Jakow nicht einst, vor so vielen Jahren, Rachel im Erbbegräbnis bestattet? Jakows Leichnam wird sogar von Ägypten dorthin gebracht werden. Es scheint, dass Jakow seine damalige Entscheidung im Rückblick bedauert.
Der Name Jakow geht über in den Namen Jisrael, den Namen, den eines Tages das Volk tragen wird
Zuletzt ruft Jakow seine Söhne zu sich. Er kennt sie gut, mit all ihren Stärken und Schwächen. Und während er prophetische Worte über seine Söhne spricht, über die Stammväter jener Stämme, die einst Kena’an wieder in Besitz nehmen werden, geht der Name Jakow in der Tora über in den Namen Jisrael, den Namen, den eines Tages das Volk tragen wird, Bnei Jisrael, zur Zeit des Auszugs aus Ägypten.
Jakow nennt Jehuda den Anführer unter den Brüdern, ihn, der einst der Stammvater der Davidischen Königsdynastie sein wird, und dessen Name – Jehudim – die jüdische Gemeinschaft bis heute trägt. Jakows poetische, ja mystische Worte reichen weit in die Zukunft, und sie werfen mehr Fragen auf als sie Antworten geben.
Ganz anders klingen hingegen die Worte, die ebenjener König David auf dem Sterbebett zu seinem Sohn und Nachfolger Schlomo spricht. Wir lesen sie in der Haftara zu Wajechi. Wie sehr unterscheiden sich Jakow und David in diesem Moment! Wohl trägt der sterbende König seinem Sohn auf, stets die Gebote des Ewigen zu halten und in Seinen Wegen zu wandeln.
Darf man den Wunsch eines Verstorbenen zur Rechtfertigung für eigenes Handeln gebrauchen?
Anschließend gibt David seinem Sohn jedoch ganz konkrete Aufträge, wem dieser Gutes tun solle um Davids willen und an wem er Rache üben solle. Vielleicht sieht David es als guten Rat an den künftigen König, um dessen Stellung zu festigen. Aber er macht ihn damit zum ausführenden Instrument für seine eigene Zuneigung und seinen eigenen Hass. Ein problematischer Auftrag. Doch Schlomo wird ihn ausführen, und er kann sich dabei auf das Testament seines Vaters beziehen, so wie sich Josef dem Pharao gegenüber auf den letzten Willen seines Vaters berufen kann.
Darf man den Wunsch eines Verstorbenen zur Rechtfertigung für eigenes Handeln gebrauchen? Für die Erfüllung von Jakows Vermächtnis gilt dies ohne Zweifel. Auch wenn es sich um einen Auftrag im Sinn von Zedaka handelt oder wenn es um eine Form von Teschuwa geht, um das Regeln einer offen gebliebenen Rechnung zum Guten. Aber schwierig wird es im Fall von Rache, die womöglich sogar nur im vermeintlichen Namen des Verstorbenen erfolgt.
So wie man über Verstorbene selbst nur Gutes sagen soll, so sollte man auch in deren Namen möglichst nur Gutes tun und Gutes reden. Aber wenn es doch der Vater ausdrücklich auf dem Sterbebett verfügt hat? Die Frage ist: Hat er das wirklich so gesagt, oder ist ihm da im Nachhinein etwas in den Mund gelegt worden?
So wie die Brüder Josefs ihrem verstorbenen Vater die – nicht gesagten – Worte in den Mund legen, er, Jakow, befehle, dass Josef seinen Brüdern vergeben solle? Da der Vater nicht mehr lebt, kann er nichts mehr dazu sagen, im Fall von Jakow ebenso wie im Fall von David.
Entscheidungen müssen wir nicht nur selbst treffen, sondern auch selbst verantworten
Mögen uns unsere Verstorbenen stets ein Vorbild sein, an dem wir uns orientieren können. Doch die Entscheidungen für unser Tun und Lassen müssen wir nicht nur selbst treffen, im Großen wie im Kleinen, sondern auch selbst verantworten. Wir können die Verantwortung für unser Handeln und für dessen Folgen weder den früheren noch kommenden Generationen übertragen. Diese Verantwortung liegt bei uns, genauso wie die Sorge dafür, dass wir jeweils in der Gegenwart für die Generationen nach uns die Grundlage für eine gute Zukunft schaffen, le-dor va-dor.
Natürlich dürfen und sollen wir unsere Erfahrungen an unsere Nachkommen weitergeben. Doch sollten wir nicht wie König David erwarten, dass unsere Kinder genauso denken und handeln müssen wie wir, oder sie als Werkzeuge für unsere eigenen Pläne betrachten. Vielmehr sollen wir sie wie Jakow dazu ermutigen, ihre Stärken und Schwächen zu erkennen, und sie damit befähigen, eigenständig die Gegenwart und die Zukunft verantwortlich zu gestalten.
Die Autorin ist Rabbinerin der Liberalen Jüdischen Gemeinde Mischkan ha-Tfila Bamberg und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).
INHALT
Der Wochenabschnitt Wajechi erzählt davon, wie Jakow die Enkel Efrajim und Menasche segnet. Seine Söhne versammeln sich um sein Sterbebett, und er wendet sich an jeden mit letzten Segensworten. Jakow stirbt und wird seinem Wunsch entsprechend in der Höhle Machpela in Hebron beigesetzt. Josef verspricht seinen Brüdern, nun für sie zu sorgen. Später dann, bevor auch Josef stirbt, erinnert er seine Brüder daran, dass der Ewige sie in das versprochene Land zurückführen wird.
1. Buch Mose 47,28 – 50,26