Es gibt heute kaum einen Diskurs, in dem die Diskrepanz zwischen dem jüdischen Denken und der säkularen Gesellschaft größer wäre als in der Behandlung und Bewertung des Alters. Nur allzu oft wird heute in Deutschland die »Generation 65+« bestenfalls als finanzkräftige Konsumenten gesehen, meist jedoch als Sorgen und Ausgaben bereitende Kunden der Pflegeversicherung oder der Altersheime. Der gesellschaftliche Mainstream jedenfalls ist jugendlich. Er steht für eine dynamische Kultur mit eigener Sprache und weltweit vernetzten Facebook- und Twitter-Usern – da kommen »Alte« nur am Rande vor.
Im jüdischen Denken spielt dagegen der Respekt vor dem Alter eine zentrale Rolle. Eine der vermutlich wichtigsten Aussagen über die Behandlung eines alten Menschen findet sich im 3. Buch Moses: »Vor einem grauen Haupt sollst du aufstehen und die Alten ehren; denn du sollst dich fürchten vor deinem G’tt, denn ich bin der Herr« (3. Buch Moses 19,32). Und auch der Talmud befasst sich ausgiebig mit der Erläuterung und Auslegung dieses Toraverses: »Unsere Meister lehrten: ›Vor einem Greise sollst du aufstehen‹.«
Überlieferung Passend dazu sollten wir uns an dieser Stelle an eine besondere Aggada aus der rabbinischen Literatur erinnern. Der römische Kaiser Hadrian, der nicht gerade für seine judenfreundliche Einstellung berühmt war, besuchte einmal die Stadt Tiberias im Heiligen Land. Er traf dort einen alten Mann, der gerade die anstrengende Arbeit des Pflanzens von Feigenbäumen verrichtete. Der Kaiser sprach ihn an: »Sabba (Großvater)! Warum arbeitest du immer noch so hart? In deinen jungen Jahren hast du bestimmt genug geschuftet, um deinen Lebensunterhalt zu verdienen. Jetzt aber wäre die Zeit gekommen, zu ruhen. Du wirst die Früchte dieser Bäume ohnehin nicht mehr genießen können.«
Der alte Mann antwortete: »Meine Aufgabe ist es, zu versuchen, die Arbeit so zu vollenden, wie es mein Alter noch erlaubt. Und was mir beschieden werden wird, möge der allmächtige Herr entscheiden.« Als der alte Mann dem Kaiser sein Alter von über 100 Jahren nannte, horchte dieser auf. »Und du erwartest, dass du diese Früchte noch ernten kannst?« Der alte Mann bejahte: »Wenn die Früchte meiner Arbeit schön und gut sein werden, so werde ich diese genießen. Und wenn nicht, werden es meine Kinder und Enkelkinder tun. Ebenso wie ich von der Arbeit meiner Vorfahren gewonnen habe.« »Sabba«, sagte darauf der Kaiser, »wenn du diese Feigen ernten solltest, lasse es mich wissen.«
Zu gegebener Zeit reiften die Feigen und brachten eine reiche und süße Ernte. Der alte Mann füllte damit einen Korb und reiste zum Palast des Kaisers. Er wurde, wie durch ein Wunder, vorgelassen. »Wer bist du?«, fragte Hadrian. »Der Kaiser erinnert sich vielleicht noch an den alten Mann, der vor vielen Jahren Feigenbäume in Tiberias pflanzte? Nun hat mir G’tt gewährt, von diesen Feigen zu essen, die ich gepflanzt hatte, und ich habe, wie vereinbart, einen Korb mit den Früchten für den Kaiser mitgebracht.«
Hadrian wandte sich daraufhin an seine Höflinge: »Nehmet die Feigen von dem Alten und gebt ihm einen Korb voller Goldmünzen dafür.« Die Diener des Kaisers wunderten sich sehr. »Wozu ein solch verschwenderisches Geschenk für einen alten Juden?« Hadrian antwortete ihnen: »Sein Schöpfer ehrte ihn mit einem langen und regen Leben. So ist es nur allzu richtig, dass auch ich ihn ehre.«
Raschi Der Gelehrte und bis heute sehr populäre Bibel- und Talmudkommentator Raschi (Rabbi Schlomo Jitzchaki, 1040–
1105) bewies bei der Erläuterung des Toraverses aus dem 3. Buch Moses seinen Sinn für das Praktische und Pragmatische. Es stellt sich die Frage, wie man die Ehrung der Alten im Alltag bewerkstelligt. Man setze sich nicht auf ihren angestammten Platz. Man rede nicht an ihrer Stelle und selbstverständlich unterbreche man sie auch nicht. Man bemühe sich, sie anzuhören, ohne sie mit sinnlosen Widersprüchen zu stören. Und zum Schluss erwähnt Raschi, dass man bei einer Begegnung nicht so tue, als ob man sie nicht bemerkt hätte.
Verse Eine ebenfalls charakteristische Interpretation wird zu dem häufig zitierten Vers aus den Sprüchen Salomos (Mischle) geliefert: »Prächtige Krone ist das Grauhaar. Gefunden wird es auf dem Weg der Rechtlichkeit« (16,31). Die jüdischen Kommentatoren, vornehmlich Raschi, deuten die Gerechtigkeit als »Zedaka«, als Wohltätigkeit, um dadurch die Not der Mitmenschen zu lindern. So meint Raschi, dass diese auch das Leben und den Ruhm der Alten verlängern könne.
Die Beziehungen zwischen Jung und Alt waren indes stets auch von Konflikten geprägt, sonst wäre der Vers aus dem Buch des letzten der israelitischen Propheten, Maleachi, nicht zu verstehen: »Er soll das Herz der Väter bekehren zu den Kindern und das Herz der Kinder zu ihren Vätern, dass ich nicht komme und das Erdreich mit dem Bann schlage« (Maleachi 3,24).
Erhofft und erwünscht wurde im Idealfall stets jener Greis – »Chacham«, der Weise genannt –, der die Autorität durch schöpferische Kreativität immer wieder erwirbt und bestätigt. In der dichterischen Abschlussrede von Moses am Ende des fünften Buches finden wir die Aufforderung, die als Teilung der gegenseitigen Verantwortung verstanden werden kann: »Frage deinen Vater, der wird dir’s verkündigen, deine Ältesten, die werden dir’s sagen« (5. Buch Moses 32,7).
Die Ehrerbietung den Alten gegenüber ist – bei allem Respekt für das Alter – jedoch keine Einbahnstraße in der Gedankenwelt unserer Weisen und Gelehrten. Den alten Menschen stehen nicht nur Achtung, Schutz und Ehrerbietung zu, sondern die Gesellschaft kann auch von ihnen vor allem Verantwortung und Pflichtbewusstsein in ihrem Tun erwarten. Im jüdischen, talmudischen Rechtsverständnis wird dies am ehesten bei den talmudischen Regelungen der Pflichten und Rechte den Eltern gegenüber sichtbar.
Eine nicht zu vernachlässigende Pflicht ist zum Beispiel die konsequente religiöse Erziehung der Kinder. Diese basiert auf dem mehrfach zum Tagesgebet gewordenen Abschnitt des Buches Dewarim: »und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzest oder auf dem Wege gehst, wenn du dich niederlegst oder aufstehst« (5. Buch Moses 6,7).
Der Autor war bis 2002 Landesrabbiner von Württemberg. Der Beitrag ist die bearbeitete Version eines Referats im Rahmen der 13. Laupheimer-Gespräche, veranstaltet vom »Haus der Geschichte« Baden-Württemberg in Stuttgart.