Heilig sollt ihr sein! Mit diesen Worten beginnt unser Wochenabschnitt (3. Buch Mose 19,2) und erhält mit ihnen auch seinen Namen: »Kedoschim« – »Heilige«. Viele Religionen streben nach der Heiligkeit und sehen darin das oberste Ideal. Doch was bedeutet Heiligkeit, und woher kommt sie? Wie macht man das konkret: heilig sein?
Zum Ursprung der Heiligkeit gibt uns derselbe Vers Auskunft: »Rede zur ganzen Gemeinde der Kinder Israels und sage ihnen: ›Heilig sollt ihr sein! Denn heilig bin Ich, der Ewige, euer G’tt.‹«
In G’tt liegt der Ursprung. Wo Seine Präsenz verweilt, ist Heiligkeit. Er teilt die Heiligkeit dem Volk Israel zu: »Denn ein heiliges Volk bist du dem Ewigen, deinem G’tt« (5. Buch Mose 7,6).
Phänomen Das lässt uns stutzig werden: Ist die Heiligkeit nun eine unverrückbare Tatsache, vom Himmel als Begleitphänomen festgelegt und bestimmt, oder ein Gebot, das von individuellen Entscheidungen und Handlungen abhängt?
Was bedeutet Heiligkeit, und woher kommt sie?
Heiligkeit ist beides. Sie hat zwei Grundlagen. Einerseits gibt es eine himmlisch festgelegte Bestimmung der Heiligkeit, andererseits kommt diese erst durch das menschliche Handeln zur Geltung und wird, falls gegenteilig gehandelt, entweiht, da das Potenzial verworfen wird. Diese duale Ebene können wir im Hinblick auf drei Bereiche feststellen: auf die Zeit, den Ort und den Menschen.
Zeit Zum ersten Mal begegnet uns der Begriff der Heiligkeit in der Tora in Bezug auf die Zeit: »Und G’tt segnete den siebten Tag, und Er heiligte ihn« (1. Buch Mose 2,3).
Der siebte Tag ist seit der Schöpfung der Welt heilig, vom Menschen und seinem Wirken unabhängig – einfach Realität. Trotzdem gebietet die Tora, des Schabbats zu gedenken und ihn zu heiligen (2. Buch Mose 20,7), was mit dem Kiddusch – wörtlich: der »Heiligung« – am Freitagabend erfüllt wird.
Und wenn ein Jude den Schabbat nicht hütet, wie die Tora es vorschreibt (5. Buch Mose 5,11), dann entweiht er dessen Heiligkeit.
Die Heiligkeit der Feiertage, die von der Heiligkeit des Schabbats abgeleitet ist, wird durch das jüdische Volk hervorgerufen (3. Buch Mose 23,2: »Dies sind die Festtage des Ewigen, die ihr heilig verkünden sollt«).
Ort Auch in Bezug auf den Ort finden wir die Heiligkeit zunächst als g’ttliche Tatsache, als Mosche G’tt zum ersten Mal direkt am brennenden Dornbusch begegnet: »Und Er (G’tt) sprach: ›Nahe nicht hierher; streife deine Schuhe von deinen Füßen, denn der Ort, auf dem du stehst, ist heiliger Boden« (2. Buch Mose 3,5).
Dennoch ist es nicht diese Heiligkeit, die weiterhin bestehen bleiben soll, denn der Berg Sinai, an dem sowohl dieses Ereignis als auch die den Berg heiligende Offenbarung G’ttes stattfindet (19, 12–13 und 23), wird nur so lange heilig bleiben, wie die g’ttliche Präsenz auf ihm ruht.
Der Einzelne hat das freie Wahlvermögen, nicht aber eine Gemeinschaft.
Danach darf der Berg wieder ohne Einschränkung betreten werden. Erst als das Volk Israel den Tempel auf dem Tempelberg einweiht und heiligt – dessen Heiligkeit bis dahin lediglich als Potenzial existierte –, wird eine örtliche Heiligkeit erzeugt, die von da an für alle Ewigkeit bestehen bleibt (Talmud Chagiga 3b; Maimonides Trumot 1,5; Bejt Habechira 6,16).
So verhält es sich auch mit dem Menschen: Der Einzelne hat das freie Wahlvermögen, nicht aber eine Gemeinschaft. Die Gemeinschaft besteht aus Gerechten, Mittelmäßigen und Bösewichten. Die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft ist nicht von den Taten des jüdischen Menschen abhängig, sondern Teil seiner Natur.
Diese Gemeinschaft, als Teil des Volkes Israel, bildet den Grundstock und das stete Potenzial für die Heiligkeit, die schließlich durch die Wahlmöglichkeit eines jeden Einzelnen in die Tat umgesetzt wird. Wenn diese Einzelnen die Gemeinschaft bestimmen, dann wird die g’ttliche Gegenwart auf Erden sichtlich spür- und erkennbar.
Gebot Wie wird dieses Potenzial der Heiligkeit konkret umgesetzt? Was soll getan werden, um das Gebot, heilig zu sein, zu erfüllen?
Der Midrasch verbindet das Gebot mit allen anderen der Tora: »Denn die meisten Teile der Tora sind von diesem Gebot abhängig« (Wajikra Raba 24,5).
Auch der Rambam, Maimonides (1135–1204), bezieht den Begriff der Heiligkeit auf die ganze Tora: »›Heilig sollt ihr sein‹ und ›Ihr sollt euch heiligen‹ sind Gebote, die ganze Tora zu erfüllen, als ob Er sagte: ›Sei heilig, indem du all das, was Ich dir befohlen habe, tust und dich vor allem, wovor Ich dich gewarnt habe, vorsiehst‹« (Sefer Hamizwot, 4. Schoresch).
Die Mechilta, ein Midrasch, fügt hinzu: »Wenn der Ewige Israel ein neues Gebot verordnet, fügt Er ihnen Heiligkeit zu.« So steht geschrieben: »Und ihr sollt euch heiligen und seid heilig ... Und hütet Meine Gesetze und führt sie aus, Ich bin der Ewige, der euch heiligt« (3. Buch Mose 20, 7–8).
Speisen Dennoch betitelt Maimonides nur eines der 14 Bücher seines halachischen Werkes Mischne Tora »Buch der Heiligkeit«. In diesem behandelt er zwei Bereiche: die Verbote der Unzucht und die Gesetze verbotener Speisen. Auch der Kommentar von Raschi (1040–1105) zum 3. Buch Mose 19,2 schlägt eine ähnliche Richtung ein. Erklären lässt sich diese Spezifizierung durch die Anlehnung des Gebotes der Heiligung an diese beiden Verbotsbereiche in der Tora (3. Buch Mose 11, 44–45; 19,2 und 20, 25–26).
Der Ramban, Nachmanides (1194–1270), ist jedoch anderer Auffassung. Seiner Meinung nach betont das Gebot der Heiligung nicht nur das bloße Einhalten einiger Gesetze der Tora, sondern er geht darüber hinaus und erweitert den Rahmen der Gebote.
Denn wer sich rein an die Gebote der Tora und ihre engere Definition hält, hat immer noch Möglichkeiten genug, seinen Gelüsten innerhalb der Gesetze der Tora freien Lauf zu lassen: Er kann beispielsweise im Wein- und Fleischgenuss schwelgen, ohne dabei ein ausdrückliches Verbot der Tora zu übertreten – außer dem Gebot: »Heilig sollt ihr sein!«
Der Ramban ist anderer Auffassung.
Um solchen Erscheinungen vorzubeugen, befahl die Tora ganz generell, heilig zu sein und sich von überflüssigen Genüssen abzusondern, auch wenn sie rein formell erlaubt sind. Die Zügelung der Gelüste ist es, die den Menschen dem Ewigen, dem Ursprung der Heiligkeit, näherbringt.
grenzen Gemäß dieser Definition von Heiligkeit stellt sich jedoch die Frage, wo die Grenzen zu ziehen sind. Die vollständige Absonderung von der materiellen Welt und die Selbstkasteiung sind weder positiv noch erwünscht, wie sich aus mancher Talmudstelle ersehen lässt: »Ist dir nicht genug, was die Tora verboten hat, dass du dir zusätzliche Dinge verbietest?« (Jerusalemer Talmud, Nedarim 9a). »Es ist dem Menschen verboten, sich zu kasteien« (Babylonischer Talmud, Taanit 22b).
Der Ramchal, Rabbi Mosche Chaim Luzzato (1707–1746), überbrückt diese Gegensätze anhand einer genaueren Anleitung zu Rambans Prinzip: »Es ist gut und angemessen, sich von allen Dingen dieser Welt zu trennen, die der Mensch nicht benötigt. Wenn er sich aber von Dingen trennt, die er benötigt, sündigt er. (...) Das ist eine getreue Regel, die Einzelheiten jedoch sind von eines jeden Verstandes abzuwägen« (Weg der Frommen, Kapitel 26).
Einige feste Regeln zur Heiligkeit führt der Ramchal aber noch an: Sie hebt keine ausdrücklichen Gebote der Tora auf; heiliges Verhalten findet in einsamen Momenten der Abgeschiedenheit in derselben Art statt wie unter anderen Menschen; Heiligkeit und Frömmigkeit gehen nicht auf Kosten anderer!
Abschließend bleibt zu bemerken, dass Heiligkeit nicht nur von unten kommt, sondern auch auf himmlische Unterstützung angewiesen ist: »Ein Mensch heiligt sich ein wenig – so heiligt man ihn viel; von unten – so heiligt man ihn von oben« (Babylonischer Talmud Joma 39a). Eigentlich ein kleiner Schritt für einen Menschen.
Der Autor ist Rabbiner in Israel.
Inhalt
Der Wochenabschnitt enthält Anweisungen für das gesamte Volk Israel, heilig zu sein in Gedanken, Worten und Taten. Unter anderem werden gefordert: Respekt vor den Eltern, die Einhaltung des Schabbats, Ecken der Felder für Arme übrig zu lassen, nicht zu stehlen, Gerechtigkeit walten zu lassen, keine verbotenen sexuellen Beziehungen einzugehen und mit Maßen und Gewichten ehrlich umzugehen.
3. Buch Mose 19,1 – 20,27