Tzora’at ist das zentrale Thema des Wochenabschnitts Tasria-Mezora. Tzora’at ist ein Leiden, bei dem sich nicht nur die menschliche Haut, Kleidung, Haare, sondern sogar unbewegliche Güter auf eine unnatürliche Weise verfärben.
Die Gesetze des Tzora’at sind detailliert und vielschichtig. Es gibt talmudische Traktate, die sich mit den ordnungsgemäßen Verfahren zur Reinigung von Tzora’at beschäftigen. Eine Reihe von Gesetzen muss einwandfrei befolgt werden, um diese Reinigung zu ermöglichen. Die Ausheilung von Tzora’at hat mehr als nur physiologische Auswirkungen, sie hat vor allem eine große geistige Bedeutung.
Die Verfärbung der Haut spiegelt keine chemische Reaktion wider, und sie ist auch kein Anzeichen für ernährungsbedingten Vitaminmangel. Tzora’at ist ein himmlisches Zeichen für einen geistigen Fehler, der in erster Linie in abwegigen Redegewohnheiten liegt und nun körperliche Unreinheit hervorruft. Es ist eine Krankheit, die ein Schwätzer erleidet. Dieser muss zu einem Kohen, einem Priester, gehen, der ihm die richtige Vorgehensweise erklärt, um sich sowohl von dem äußeren Makel als auch von dem falschen Verhalten, das zur Veränderung seines Aussehens führte, befreien zu können.
Ausschlag Die Tora sagt uns, dass das Schicksal des betroffenen Menschen völlig von dem Willen des Kohens abhängig ist. Der Kohen sieht die Negah, den Ausschlag, und hat die Macht, ihn entweder als tamei (unrein) oder tahor (rein) zu erklären.
Auch wenn alle Anzeichen auf den Zustand der Unreinheit deuten, ist es so: Falls der Kohen aus irgendeinem Grund der Ansicht ist, die Person sei tahor und nicht tamei, behält sie ihren Reinheitsstatus. Ein Mensch ist demnach nicht tamei, bis ihn der Kohen offen und klar so benennt.
Bei intensiver Beschäftigung mit dieser auf den ersten Blick verwirrenden Angelegenheit fällt auf, dass ein bestimmter Vers überflüssig zu sein scheint: »Und wenn der Kohen den Ausschlag auf der Haut des Fleisches sieht, und das Haar im Ausschlag hat sich weiß verfärbt, und der Ausschlag erscheint tiefer als die übrige Haut, so ist es ein Aussatz. Sobald der Kohen dies sieht, muss er ihn für unrein erklären« (3. Buch Moses 13,3). Warum muss der Kohen nun zweimal hinschauen? Wozu dient der zweite Blick?
entscheidung Rav Abraham Twerski erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der zum Oberrabbiner von Wilna, Rav Chaim Ozer Grodzinsky, mit einer Bitte kam. Sein Vater bewarb sich um eine Rabbinerstelle in einer Stadt, die Rav Chaim Ozer gut kannte. Er bat den großen Rav – natürlich im Namen seines Vaters – um einen Empfehlungsbrief für die Bewerbung.
Rav Chaim Ozer Grodzinsky war jedoch der Ansicht, dass der Bewerber der Position keineswegs würdig war. Anstatt die Bitte des jungen Mannes forsch abzulehnen, sagte er lediglich, dass er sich einerseits sehr ungern in die Angelegenheiten dieser Stadt einmischen möchte, andererseits sei er sich jedoch sicher, dass der Gemeinderat dieser Stadt eine faire und kluge Entscheidung treffen werde.
Rav Chaim Ozer ahnte nicht, welch Redeschwall ihm bevorstand. Der junge Mann fing an, ihn zu beschimpfen und zu beleidigen. Nachdem sich der Rav dies einige Minuten lang angehört hatte und es so aussah, als ob der Redner überhaupt nicht mehr aufhören wolle, verließ der Rav mit einer Entschuldigung den Empfangsraum. Seine Schüler, die die Flut der Lästerungen erlebt hatten, waren von der dreisten Frechheit des jungen Mann schockiert. Und sie waren noch mehr überrascht, dass der Rav den jungen Mann am Beginn seiner Tirade nicht ins Wort gefallen war.
Rav Grodzinsky wandte sich später an sie: »Man kann diesen Übergriff nicht allein betrachten, man muss das Gesamtbild sehen: Der junge Mann verteidigte die Ehre seines Vaters, und unter diesem Aspekt musste ich sein Fehlverhalten übersehen.«
Der Kohen, der damit beauftragt wird, sich mit dem Betroffenen zu befassen, sollte nicht nur auf den Ausschlag schauen, sondern er muss noch einmal »hineinsehen«. Sein Blick muss auf den Menschen gerichtet sein.
Umstände Rav Meir Simcha Hakohen aus Dvinsk erklärt, dass, selbst wenn der Ausschlag alle Eigenschaften hat, die zu einer Erklärung der Tumah, der Unreinheit, führen sollten, es dennoch andere Umstände gibt, die berücksichtigt werden müssen. Wenn der Mann beispielsweise ein Bräutigam ist, kurz davor zu heiraten, wird er nicht für unrein erklärt. Denn dies würde die bevorstehenden Feierlichkeiten ruinieren. Auch wenn es andere mildernde Umstände gibt, wird eine Bekanntmachung der Verunreinigung vermieden.
Die Tora verdeutlicht uns an dieser Stelle, wie vorsichtig wir damit sein müssen, andere zu beurteilen und zurechtzuweisen. Es ist überaus leicht, Fehler bei unseren Mitmenschen zu finden und sie auf diese hinzuweisen. Jedoch müssen wir uns mit der gesamten Person befassen, nicht nur mit einer bestimmten Verhaltensweise oder Reaktion. Wir müssen uns stets fragen: »Wird mein Tadel die Zukunft dieser Person beeinträchtigen? Wird dieser Mensch verletzt werden? Wir müssen möglichst viele Umstände und Hintergründe berücksichtigen, also noch einmal »hineinsehen« und außer dem eigentlichen Fehler die allgemeine Situation der Person betrachten.
Der Autor ist Rabbinatsstudent an der Jeschiwa »Beis Zion« in Berlin.