Identität

Drinnen oder draußen?

Tausende Beter beim Birkat Hakohanim an der Kotel in Jerusalem, Pessach 2011 Foto: Flash 90

Die Israeliten in Ägypten, so sehen es unsere Weisen, nahmen es mit der spirituellen Reinheit nicht genau. Sie beteten Götzen an, sie waren verdorben und lasterhaft. Womit, so müssen wir uns fragen, haben sie dann eine so gewaltige und wunderbare Errettung verdient, wie sie die Tora überliefert?

Nur drei Dinge sprachen für die Kinder Israel: Sie behielten ihre hebräischen Namen, ihre hebräische Sprache, und sie trugen die unverwechselbare Kleidung der Hebräer. In anderen Worten: Sie hielten an ihrer jüdischen Identität fest.

Schneeballsystem
Aber bietet diese jüdische Identität wirklich in jedem Moment unserer Geschichte Anlass zum Stolz? War es nicht so, dass wir uns am liebsten verkriechen wollten, als herauskam, dass das größte und unverschämteste Schneeballsystem aller Zeiten von einem Betrüger erfunden worden war, der einen eindeutig jüdischen Namen trug – Bernard Madoff?

Wäre es uns nicht viel lieber gewesen, er hätte seinen Namen in Christopher Johnson oder etwas in der Art geändert, statt seine jüdische Identität beizubehalten?

Für unsere Generation haben diese Fragen ungemein an Bedeutung gewonnen. Denn Ehebruch, häusliche Gewalt, Drogensucht und Pornografiekonsum sind heutzutage Phänomene, die stark zugenommen haben – ebenso wie Mord aus nichtigen Gründen, zum Beispiel wegen eines Streits um einen Parkplatz. Eine objektive Analyse unseres moralischen Zustandes würde also ein düsteres Bild ergeben.

Messias Das Judentum kennt eine teleologische Weltsicht – die Geschichte bewegt sich auf ein bestimmtes Ziel zu, nämlich die Erlösung beziehungsweise das messianische Zeitalter. Doch wie kann eine Generation, die so lasterhaft ist wie unsere, überhaupt erlöst werden?

In seinem Kodex des jüdischen Gesetzes drückt Maimonides etwas ganz Erstaunliches aus. Er schreibt, ein Jude, der von der jüdischen Gemeinschaft getrennt lebt, müsse als kofer b’ikar, als Häretiker, betrachtet werden, auch wenn er alle Gebote befolgt. Daraus kann man schließen, dass die Identifikation mit der jüdischen Gemeinschaft an sich ein zentraler Wert ist, der allen Geboten zugrunde liegt.

Die Frage, ob man sich als Jude identifizieren will oder nicht, bekam erst im 19. Jahrhundert Relevanz, als die Ghettomauern fielen. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde eine große Anzahl von Juden abtrünnig.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts konvertierte die Mehrheit der wohlhabendsten Juden Warschaus zum Christentum. Rund 20.000 Juden ließen sich 1867 und 1918 in Österreich-Ungarn taufen, um dem gesellschaftlichen Stigma des Jüdischseins zu entkommen. Gustav Mahler ist das wohl berühmteste Beispiel. Der Musiker konvertierte 1897 zum Katholizismus, um die Stelle des Dirigenten an der Wiener Oper zu bekommen.

Tefillin Viele osteuropäische Juden, die nach Amerika auswanderten, warfen im Hafen von New York ihre Tefillin ins Wasser, um ihre jüdische Identität abzustreifen und zu »richtigen« Amerikanern zu werden.

Im Gegensatz zu den alten Hebräern in Ägypten, die ihre hebräischen Namen und ihre Sprache beibehielten, änderten viele jüdische Einwanderer in den USA ihre Namen. Der Film Hester Street, der das Leben auf der Lower East Side von Manhattan zum Thema hat, enthält eine Szene, die in einem Tanzkurs spielt. Die Inschrift eines Schildes an der Wand lautet: »Hier wird kein Jiddisch gesprochen!«

Solidarität Auch in unserer Generation verleugnen viele Juden ihre jüdische Identität. Seit 1948 ist der Lackmustest für jüdische Identifikation in den Vereinigten Staaten die Unterstützung des jüdischen Staates, und nicht einfach die Zugehörigkeit zu einer Synagoge. Rabbi Nachman Kahane kann sich erinnern, wie er als junger Mann in New York 1948 half, Geld zu sammeln, um Waffen für jüdische Kämpfer zu kaufen. Auf dem Gebiet, in dem sie kämpften, entstand wenig später der Staat Israel.

Die Unterstützer parkten mit ihrem Lastwagen an einer Straßenecke, stiegen aus, und zwei von ihnen hielten eine israelische Fahne waagerecht zwischen sich. Leute kamen vorbei, griffen in ihre Tasche und warfen, ohne hinzuschauen, alles, was sie hatten, auf die Fahne. Bis zum Anbruch des vergangenen Jahrzehnts war eine solche grenzenlose Unterstützung Israels durch die amerikanische jüdische Gemeinschaft die Regel.

Aus diesem Grund schrillten vor einigen Jahren die Alarmglocken, als eine Studie zeigte, dass 50 Prozent der amerikanischen Juden unter 35 Jahren es als »keine persönliche Tragödie« ansehen würden, »wenn der Staat Israel aufhört, als Staat zu existieren«.
Und vor etwa einem Jahr sagte eine Abgeordnete des US-Kongresses, die Juden Amerikas hätten Israel verraten, als sie Barack Obamas diplomatische Kapitulation vor dem Atomprogramm des Iran befürworteten.

Abfall Als schlimmste Form des Abfalls vom jüdischen Volk gilt es, sich auf die Seite jener zu stellen, deren Ziel unsere Zerstörung ist. Laut jüdischem Gesetz ist jeder Mensch, der eine jüdische Mutter hat, jüdisch, auch wenn er zu einer anderen Religion konvertiert. Aber als Mindestvoraussetzung muss ein Jude sein Schicksal mit der jüdischen Gemeinschaft teilen, um erlöst werden zu können.

Damit keine Unklarheit herrscht: Gott will das Maximum von uns Juden. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst; halte den Schabbat; lege kein böses Zeugnis ab (laschon hara); befolge die Kaschrut-Vorschriften – das volle Programm. Aber die Mindestanforderung, um erlöst zu werden, ist, sich als Jude zu identifizieren.

Doch warum sollte ein Jude, der sich zwar nicht an die Gebote hält, sich aber als Jude identifiziert, dennoch erlöst werden? An dieser Stelle wird es mystisch. In den Worten unserer Weisen haben die Patriarchen und Matriarchinnen ihre spirituelle DNA an ihre Nachfahren weitervererbt. Ihre spirituellen Errungenschaften waren nicht persönlicher Art.

In beinahe allen göttlichen Offenbarungen gegenüber den Patriarchen macht Gott Versprechungen, die sich auf die Nachfahren beziehen – sie werden sein »wie die Sterne im Himmel« und »wie der Sand am Meeresufer«, sie werden das Land Israel erben und so fort.

zechut awot Auch folgendes Versprechen wurde gegeben: Gott werde es nicht zulassen, dass eine jüdische Seele an einem absoluten Tiefpunkt ankommt, ohne durch sein göttliches Eingreifen den freien Fall zu stoppen. Dieses spirituelle Sicherheitsnetz heißt »zechut awot« – das Verdienst der Vorväter.

Laut dem Midrasch machte der Engel Ägyptens bei der Teilung des Roten Meers gegenüber Gott geltend, sowohl Hebräer als auch Ägypter seien Götzenanbeter. Warum sollten dann die Hebräer gerettet werden und die Ägypter ertrinken? Gott antwortete, die Hebräer seien die Nachfahren von Abraham, Isaak und Jakob – »zechut awot«, das Verdienst der Vorväter.

Doch in den Genuss von »zechut awot« kommt man, wie bei jeder anderen Erbschaft, erst, wenn man Anspruch darauf erhebt. Nehmen wir an, Ihr Großvater vermacht Ihnen eine Million Dollar.
Wenn Sie nicht im Büro des Rechtsanwalts erscheinen und sich als Enkel von Jake Levy identifizieren, werden Sie nicht auf sein Vermögen zugreifen können. Wenn Sie sich nicht aktiv als Jude identifizieren, können Sie den Reichtum von »zechut awot« nicht erben. Pessach stellt jeden Juden vor die Herausforderung: drin- nen oder draußen?

Reservefallschirm »Zechut awot« ist wie der Reservefallschirm eines Fallschirmspringers. Wenn sich der Hauptschirm nicht öffnet, während er mit 180 Stundenkilometern zur Erde fällt, kann er durch den Reserveschirm gerettet werden. Aber nur, wenn er an der Leine reißt! Die Leine, die das Verdienst der Vorväter aktiviert, ist die jüdische Identität.

Jüdische Identität ist das, was Kirk Douglas veranlasste, an jedem Jom Kippur zu fasten. Wie er mit Stolz berichtete: »Auch wenn ich gerade einen Film drehte, habe ich gefastet.«

Jüdische Identität ist das, was Ruth Bader Ginsburg, Richterin am amerikanischen Obersten Gericht, veranlasste, eine große silberne Mesusa am Türrahmen ihrer Kammer am Gericht anzubringen.
Und jüdische Identität ist das, was die Filmschauspielerin Scarlett Johansson dazu brachte, auf Kosten ihres Ansehens als Oxfam-Botschafterin zum Staat Israel zu stehen.

Böser Sohn Der Pessachseder spricht von vier Söhnen. Nur ein Sohn von ihnen wird als »böse« dargestellt. Wie die Haggada feststellt: »Der böse Sohn, was sagt er? ›Was soll euch diese gottesdienstliche Feier?‹ Euch, nicht ihm. Indem er sich aus der Gemeinschaft ausschließt, leugnet er den Glauben an Gott. ... Sage ihm: ›Deswegen hat es der Allmächtige an mir getan, als ich aus Ägypten zog.‹ Mir, nicht ihm. Wäre er dort gewesen, wäre er nicht erlöst worden.«

Das erste Pessach markiert die Geburt der jüdischen Nation. Seitdem stellt jedes Pessachfest jeden Juden erneut vor eine Herausforderung – und vor die Frage: Bist du drinnen oder draußen?

Übersetzung und Abdruck mit freundlicher Genehmigung von www.aish.com

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