Im Traktat Brachot (33a) macht der Talmud eine grandiose Aussage: »Rabbi Elazar sagte: Jeder, der Wissen (hebräisch: Daat) erworben hat, dem wird angerechnet, als hätte er den Tempel in Jerusalem wiederaufgebaut.«
Auf den ersten Blick scheint diese talmudische Aussage wie eine der vielen motivierenden Aussagen im Talmud, die alltägliche Errungenschaften mit kosmischen Errungenschaften gleichsetzen. So heißt es unter anderem: »Jeder, der Tora lernt, wohltätig ist und zur Synagoge geht, dem wird angerechnet, als hätte er jede einzelne Generation des Volkes Israel aus dem Exil gerettet« (Brachot 8a).
Allerdings heißt es auch: »Jeder, der eine Synagoge in seiner Stadt hat und sie nicht besucht, dem wird angerechnet, als hätte er sich selbst und alle seine Nachkommen ins Exil geschickt« (ebenfalls Brachot 8a).
Dimension unserer alltäglichen Taten
Will der Talmud uns nur motivieren und übertreibt daher die Dimension, die unsere alltäglichen Taten haben? Vielleicht aber drücken sich die Weisen genauer aus, als es auf den ersten Blick scheint, und geben mit ihren Vergleichen einen Einblick in mystische Wahrheiten, die in der Genauigkeit ihrer Wortwahl atemberaubend sind.
Schauen wir uns als Beispiel die oben genannte Aussage an: »Jeder, der Wissen erworben hat, dem wird angerechnet, als hätte er den Tempel in Jerusalem wiederaufgebaut.«
Das Wort, das der Talmud für »Wissen« verwendet, ist Daat. Es gibt auch andere Wörter, die man hätte benutzen können, das Wort »Daat« drückt im Hebräischen allerdings eine sehr konkrete Art von Wissen aus.
Wir unterscheiden zwischen »Chochma«, »Bina« und »Daat«. Während Chochma die Fähigkeit ist, Wissen aufzunehmen, beschreibt Bina die Fähigkeit, das Gelernte in einen Kontext zu stellen. Daat ist die Fähigkeit, das Wissen mit den Emotionen und Handlungen zu verbinden.
Ein Beispiel: Jemand findet heraus, dass Zigaretten ungesund sind. Dieses Wissen ist nun Teil der Chochma. Daraufhin versteht die Person, dass sie, weil Zigaretten ungesund sind, mit dem Rauchen aufhören sollte. Sie stellt also einen persönlichen Bezug zum Wissen her. Dieser Bezug heißt Bina. Wissen zu nutzen, sodass es zum Handeln führt, ist Daat.
Die chassidische Chabad-Bewegung hat ihren Namen aus dem Akronym der drei Worte »Chochma«, »Bina« und »Daat« gewonnen. Daat ist also nicht nur Wissen, sondern die Fähigkeit, Wissen anzuwenden. Wer weiß, dass man etwas nicht tun sollte, und es dennoch tut, hat zwar Chochma und Bina, aber kein Daat.
Ausdruck für die Ideale des Kopfes
Während Chochma und Bina mit dem Kopf assoziiert werden, da sie rein intellektueller Natur sind, wird das Handeln mit dem restlichen Körper assoziiert, der im Idealfall ein Ausdruck für die Ideale des Kopfes ist. Der Weg vom Kopf zu den anderen Organen führt über den Hals und den Nacken, die mit Daat assoziiert werden.
Über das Zusammentreffen von Josef mit Benjamin sagt die Tora: »Er fiel seinem Bruder Benjamin um den Nacken und weinte; auch Benjamin weinte an seinem Nacken« (1. Buch Mose 45,14). Laut dem mittelalterlichen Kommentator Raschi ist hier nicht der körperliche Nacken Benjamins gemeint, sondern der Tempel, der sich künftig auf Benjamins Gebiet befinden würde. Josef weinte um die Zerstörung des Tempels.
Der Jerusalemer Tempel wird im Talmud immer wieder als »Nacken« bezeichnet, denn er ist das Verbindungsglied zwischen Himmel und Erde, Geist und Materie, gleich dem Nacken, der den Kopf und den von ihm regierten Körper verbindet.
Jeder Mensch gleicht einem kleinen Universum. Wer lernt, Wissen anzuwenden, wer also Daat erwirbt, der nutzt seinen Nacken als Verbindung des Wissens im Kopf mit den Handlungen des Körpers. In diesem kleinen Universum steht der Tempel bereits – der gleich dem Nacken die Ideale des Himmels (Kopf) mit dem Leben der Erde (Körper) verbinden soll.