Am 21. März ist Frühlingsanfang, und das wärmere Wetter bringt viele Synagogengänger am Schabbat dazu, beim Gebet sehnsüchtig aus dem Fenster zu schauen. Müssen wir uns wirklich hier drinnen in der stickigen Luft aufhalten, fragt sich wohl der eine oder andere. Wäre es nicht möglich, den Gottesdienst ins Freie zu verlegen?
Für einen jüdischen Gottesdienst im Freien gibt es ein spektakuläres Beispiel: den größten »Sijum Haschas« in der Geschichte Amerikas. Im MetLife Stadium in East Rutherford, New Jersey, kamen am 1. August 2012 mehr als 90.000 orthodoxe Juden und Jüdinnen zusammen, um zum zwölften Mal den Abschluss eines Lernzyklus des Babylonischen Talmuds zu feiern.
Zur Erklärung: Das »Daf-Jomi-Programm«, das Lernen des gesamten Babylonischen Talmuds mit einem Blatt pro Tag, war am 11. September 1923 von dem berühmten Leiter der »Yeshivas Chachamej Ljublin«, Rabbiner Yehuda Meir Shapiro (1887–1933), etabliert worden. Es dauert exakt 2711 Tage. Das Beenden eines Zyklus (Sijum Haschas) wird weltweit groß gefeiert. Und da jedes Jahr immer mehr Menschen an diesem Lernen teilnehmen, werden auch die Feierlichkeiten bei jedem Sijum immer größer.
maariv Doch das Beeindruckendste an dem Treffen in New Jersey war ohne Zweifel das gemeinsame Abendgebet (Maariv). Sogar nichtjüdische Ordnungshüter, die bei diesem Event im Einsatz waren und schon alle möglichen Großereignisse miterlebt hatten, waren sehr beeindruckt. Einige von ihnen erzählten, sie hätten Gänsehaut bekommen, als 90.000 Menschen gleichzeitig »Amen« sagten.
Doch ist ein Stadion überhaupt ein geeigneter Ort zum Beten? Gehört das Gebet nicht in die Synagoge? Welche Richtlinien gibt es im jüdischem Gesetz, der Halacha, zum Ort des Gebets? Wenn man den Schulchan Aruch, den wichtigsten Gesetzeskodex der Halacha, öffnet, versteht man schnell, dass das Thema »Ort des Gebets« sehr wichtig ist. Das 90. Kapitel im ersten Teil des Schulchan Aruch, »Orach Chaim«, das sich mit diesem Thema befasst, beinhaltet 27 Paragrafen! Zum Vergleich: Das 89. Kapitel, das sich mit dem wichtigen Thema »Zeitrahmen für das Gebet« befasst, besteht aus nur acht Paragrafen!
Schon im fünften Paragrafen von Kapitel 90 wird das Thema angesprochen: »Man soll nicht an einem offenen Ort beten wie im Feld, denn nur, wenn der Mensch sich an einem geschlossenen Ort befindet, wird er fähig sein, sich auf das Gebet entsprechend vorzubereiten.«
Der Hauptgrund für diese Halacha ist, dass es beim Beten wichtig ist, sich gut konzentrieren zu können. Wenn Leute ständig herumlaufen, ist keine wirkliche Konzentration möglich. Deshalb ist es essenziell, einen ruhigen, geschlossenen Ort zu finden, wo Juden sich ungestört ins Gebet vertiefen können.
Verkehr Man kann natürlich einwenden, dass es nicht immer möglich ist, ein passendes Gebäude zu finden. In Israel kann man des Öfteren erleben, dass mitten im Verkehr plötzlich ein Auto auf dem Seitenstreifen parkt und der Fahrer herauskommt, um schnell noch das Nachmittagsgebet zu sprechen, weil die Sonne schon untergeht.
Der Chofetz Chaim (Rabbi Israel Meir Hakohen aus Radin) bemerkt dazu, dass Reisende natürlich auch im Feld beten dürfen. Doch in diesem Fall müssen sie sich bemühen, einen passenden Ort zu finden, wo zum Beispiel ein paar Bäume stehen und etwas Schutz bieten.
Andererseits gibt es auch Gebäude, die nicht zum Beten geeignet sind. So sagt der Schulchan Aruch im sechsten Paragrafen von Kapitel 90, dass man in einem einsturzgefährdeten und leer stehenden Gebäude aus mehreren Gründen nicht beten darf.
Olivenbaum Es gibt noch weitere Ausnahmen: Ein Arbeitnehmer soll während der Arbeit keine unnötigen Pausen machen, denn seine Zeit gehört dem Arbeitgeber. Deshalb erlaubten unsere Weisen einem Arbeiter, der Oliven pflückte, direkt auf dem Baum zu beten. Denn würde er heruntersteigen und nach dem Gebet wieder hochklettern, wäre das ein unnötiger Zeitverlust.
Jedoch gilt eine solche Erlaubnis nur für Bäume, die starke Äste haben. Geht es um einen Baum mit schwachen Ästen, sollte der Arbeiter zum Gebet lieber absteigen, denn wegen der Angst, herunterzufallen, kann er sich nicht richtig konzentrieren. Ein schlechter Geruch im Gebäude ist definitiv ein Grund, um im Freien zu beten. Man soll in diesem Fall sogar lieber draußen statt drinnen beten. Wenn es im Sommer in einem Gebäude also heiß und stickig ist, dann dürfen die Betenden nach draußen gehen, um sich besser konzentrieren zu können.
Wenn es sich aber um eine Synagoge handelt, kann man sie nicht einfach so verlassen, denn eine Synagoge hat eine bestimmte Heiligkeit, und die Gebete dort haben stärkere Macht. Außerdem verursacht Platzwechsel zwangsläufig einen Konzentrationsverlust. Um die Synagoge zu verlassen, muss dort schon ein ziemlich unerträglicher Zustand herrschen. Die Entscheidung treffen der Rabbiner oder die Gabbaim – feste Kriterien dafür gibt es nicht.
synagoge Die 90.000 Juden im MetLife Stadium beim zwölften »Sijum Haschas« hatten in jeder Hinsicht alles Recht, dort unter freiem Himmel zu beten. Es gibt zudem eine weitere Idee im Judentum, die ein riesiges Gebet nicht nur erlaubt, sondern sogar gebietet. Im Talmud (Sukka 31b) wird von einer berühmten antiken Synagoge in Alexandria berichtet. Sie wurde von den Juden, die nach der Zerstörung des Ersten Tempels nach Ägypten geflohen waren, erbaut.
Der Talmud schildert, dass diese Synagoge riesig war und es Plätze für viele Tausende Beter gab. Das G’tteshaus war so groß, dass viele den Vorbeter nicht einmal hören konnten. Deshalb standen an mehreren Ecken die Gabbaim mit Flaggen. Wenn es Zeit war, »Amen« zu sagen, signalisierten sie allen Betenden, dass sie mit »Amen« dran waren. Doch stellt sich die Frage: Braucht man wirklich eine solche Synagoge? Könnte man nicht eine kleinere bauen?
Es gibt ein wichtiges Prinzip im Judentum: »Berov Am Haderat Ha-Melech« (viele Menschen tragen zur Pracht des Königs bei). Das ist keine abstrakte Idee, sondern hat Auswirkungen auf die Halacha. So schreibt Chofetz Chaim (Schulchan Aruch 90,28): Wenn es in der Stadt zwei Synagogen gibt und sich in einer Synagoge sehr viele Menschen versammeln, ist es besser, wegen »Berov Am« in diese Synagoge zu gehen. Deshalb war das Abendgebet im MetLife Stadium eine großartige Sache: Denn 90.000 Juden, die zusammen an einem Ort beten, selbst wenn es keine Synagoge ist, sind eine große Heiligung des Namens G’ttes (Kiddusch Haschem).
wochenabschnitt Eine eindrucksvolle Geschichte zum Thema »Ort des Gebets« finden wir in der Tora – in einer Erzählung, wo das Beten zum ersten Mal überhaupt erwähnt wird. Im 1. Buch Mose, im Wochenabschnitt Chaje Sara, wird von der Heirat Jizchaks und Rivkas berichtet. Ein Knecht Awrahams namens Eliezer wurde beauftragt, eine Braut für Jizchak in der Heimat Awrahams zu finden.
Eliezer hat diesen Auftrag erfolgreich erfüllt und ist unterwegs mit Rivka zu Awraham und Jizchak. Die Beschreibung des ersten Treffens von Rivka und Jizchak hat es in sich (1. Buch Mose 24, 63–64): »Und (Jizchak) war zur Abendzeit auf das Feld gegangen, um zu beten, und hob seine Augen auf und sah Kamele daherkommen. Und Rivka hob ihre Augen auf und sah den Jizchak. Da sprang sie vom Kamel.«
Unsere Weisen erklären, dass Jizchak gerade dabei war, das Nachmittagsgebet (Mincha) zu beten. Gerade in diesem Augenblick sah Rivka ihren zukünftigen Ehemann.
Engel Warum »sprang« Rivka von ihrem Kamel? Unsere Weisen sagen, dass das Gebet Jizchaks so stark und wirkungsvoll war, dass die Schechina (G’ttes Präsenz) über seinem Kopf ruhte und die Engel um ihm herum waren, um ihn zu bestaunen. Als Rivka dieses überwältigende Bild sah, war sie so verblüfft, dass sie von ihrem Kamel herunterfiel.
An dieser Geschichte erkennen wir deutlich, dass es beim Gebet nicht auf den Ort ankommt. Ja, es gibt gute Gründe, in einer Synagoge (und am besten auf einem angestammten Platz) zu beten, wo man sich am besten konzentrieren kann. Doch auch, wenn man im Urlaub, auf einem Ausflug oder sogar mitten im Feld ist und keine andere Wahl hat, dann darf man nicht nur, sondern man muss dort beten, um die Zeit für das Gebet nicht zu verpassen.
Und wenn man sich anstrengt, sich konzentriert und klar erkennt, vor wem man steht, dann kann man auch unter freien Himmel eine starke Verbindung zu G’tt aufbauen, sodass man sogar von den Engeln bestaunt wird.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Dessau und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz.