Hinter den großen Figuren der Purimgeschichte verschwindet Waschti immer etwas. Sie hat nur einen kleinen Auftritt, und zwar als Frau des Königs Achaschwerosch, die verbannt wird, weil sie sich weigert, auf seinen Befehl hin zu einer seiner Partys zu erscheinen. Nicht sie bleibt für ihren Mut in Erinnerung. Denn das Buch, in dem wir diese Geschichte heute finden, ist nach ihrer Nachfolgerin Esther benannt.
Wer sind die beiden Frauen in der Purim-Erzählung? Esther zeichnet sich in der Geschichte nicht durch äußeren Glanz, sondern durch innere Stärke aus. Anders als die anderen Frauen im Palast verlangte sie keine besonderen Kosmetika, sondern vertraute auf ihre natürliche Ausstrahlung und Würde. Nach drei Tagen des Fastens trat sie – ohne Schminke, ohne Schmuck – geschwächt vor den König. Doch ihre Anmut, Entschlossenheit und ihr Selbstbewusstsein ließen sie erstrahlen, sodass Achaschwerosch ihrer wahren Größe nicht widerstehen konnte. Er hört ihr zu und glaubt ihr. Esther sprengt damit klassische Rollenbilder und hinterfragt Schönheitsideale. Sie ist die Heldin der Geschichte und wird zu Recht gefeiert. Doch was ist mit Waschti?
Obwohl manche sie eher als Nebenfigur betrachten, haben sowohl antike als auch moderne Interpretationen ihr eine weitaus größere Bedeutung zugeschrieben. Waschti ist laut dem Talmud die Tochter von Belsazar, dem Herrscher des alten Perserreiches, den wir aus dem Buch Daniel kennen. Damit ist sie wohl auch die Urenkelin von Nebukadnezar, dem assyrischen König, der den Ersten Tempel zerstörte und die Juden ins Exil schickte. Sie ist seine letzte überlebende Erbin der Dynastie. Deshalb lesen die Rabbiner sie als besonders böse Königin, die ihre jüdischen Dienerinnen schlug und letztlich bekam, was sie verdiente. Das ist aber nur eine Interpretation.
Waschti weigerte sich, dem König zu gehorchen
Andere feiern Waschti als biblische Feministin, weil sie sich weigerte, dem Befehl des Königs zu gehorchen. Ihre Ablehnung wird heute als Akt des Widerstandes gegen männliche Macht interpretiert. Während Esther oft als unterwürfig betrachtet wird, stellte Waschti sich selbst stets an erste Stelle. Heute scheint ihre standhafte Weigerung, sich vom König erniedrigen zu lassen, durchaus feministisch: ein Auflehnen gegen das Patriarchat, gegen traditionelle Rollenvorstellungen, in die Frauen zunehmend wieder gedrängt werden. Der Midrasch skizziert Waschti als edle und tragische Heldin, die den einzigen echten Anspruch auf den Thron hatte. Denn als Urenkelin von Nebukadnezar ist sie die Erbin des Babylonischen Reiches, die über Persien hätte herrschen sollen.
In vielen Interpretationen wird Waschti allerdings nicht als starke Rebellin betrachtet, sondern als oberflächliche Frau, die sich nur deshalb dem König verweigerte, weil sie von einem Hautausschlag entstellt war. Vielleicht sollten wir diese Interpretation von Waschti hinterfragen. Denn Frauen, die eine eigene Meinung haben, sich nicht alles gefallen lassen oder der Autorität von Männern unterwerfen, werden fälschlicherweise oft als zickig, aufmüpfig, egoistisch oder anstrengend abgestempelt.
Zwei verschiedene Formen des Feminismus
Wie in der Gesellschaft existieren auch in der Purimgeschichte zwei verschiedene Formen des Feminismus: Waschtis offener Widerstand gegen patriarchale Strukturen und Esthers geschicktes Taktieren innerhalb des Systems. Keine dieser Strategien ist überlegen, beide haben ihren Wert. Die zwei Frauen zeigen auf unterschiedliche Weise, dass es nicht nur einen einzigen Weg gibt, sich gegen Ungerechtigkeit zu behaupten. Ihre Geschichten laden uns dazu ein, über verschiedene Strategien feministischen Handelns nachzudenken – sei es durch offenen Widerstand oder durch geschickte Anpassung und Nutzung bestehender Strukturen.
Wenn wir die Geschichte weitererzählen, sollten wir darauf achten, welche Werte wir vermitteln und welche Rollenbilder wir reproduzieren. Beide Frauen können, dürfen und sollten Vorbilder für unsere Kinder sein. Genauso wichtig ist es, auch die eigenen internalisierten Bilder zu reflektieren, denn Solidarität unter Frauen ist wichtig. Viel zu oft werden abwertende, misogyne Vorstellungen auf die Strategie projiziert, die einem vielleicht nicht passt. In einer alternativen Erzählung dagegen könnten Waschti und Esther durchaus zusammenhalten.