Goldenes Kalb

»Dies ist dein Gott, Israel«

Mummifiziertes Kalb aus dem ägyptischen Theben, um 30 v.d.Z. (British Museum London) Foto: Getty Images

Der Wochenabschnitt, den wir an diesem Schabbat in den Synagogen vortragen, enthält die Erzählung vom Goldenen Kalb aus dem 32. Kapitel im 2. Buch Mose. Das Volk, das bei den wundersamen Ereignissen während des Auszugs aus Ägypten Zeuge sein durfte, wollte nicht länger auf Mosche warten. Dieser blieb 40 Tage und Nächte auf dem Berg Sinai, um danach das Wort G’ttes, in Stein gemeißelt, vor sein Volk zu legen und die Offenbarung des Ewigen zu verkünden.

Während seiner Abwesenheit wurde Mo­sches Bruder Aharon, der die priesterlichen Aufgaben erfüllte, vom Volk be­drängt, er möge ihm einen Götzen, einen »sichtbaren Gott«, schenken, weil sie annahmen, Mosche sei für immer verschwunden.

Daraufhin sammelte Aharon Gold und Silber und formte daraus das Goldene Kalb. Es war ein vermutlich an den ägyptischen Kult erinnerndes Objekt der Verehrung. Das Volk war mit dieser Gestalt zufrieden. Es sprach: »Das ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägypten herausgeführt hat.«

Rückfall Unsere Kommentatoren, die Meister der jüdischen Exegese, bemühen sich redlich, diesen schmerzlichen Rückfall in die Götzendienerei zu erläutern.

Viele Exegeten weisen darauf hin, dass das Goldene Kalb nicht auf Wunsch der Israeliten angefertigt wurde. Vielmehr seien, wie die Tora berichtet, beim Auszug aus Ägypten auch zahlreiche Ägypter zu den Israeliten gestoßen. Und diese »Trittbrettfahrer« wollten nun die Lage zu ihren Gunsten nutzen. Sie dachten, dass sie an der Seite der Israeliten, von den Heilstaten G’ttes begünstigt, auch für sich selbst viele Vergünstigungen erhalten könnten. Als es aber im Laufe der Wüstenwanderung zu Schwierigkeiten und Versorgungsengpässen kam, waren sie die Ersten, die gegen Mosche und G’tt revoltierten.

So könnte auch das Goldene Kalb aufgrund ihres Aufruhrs erschaffen worden sein. Darauf weist der Vers »Dies ist dein Gott, Israel« hin. Damit wollten die mitziehenden Ägypter sagen: Nicht nur Mosche, der vermutlich auf dem Berg Sinai gestorben ist, kann führen, sondern auch diese ägyptische Statue kann es.

propheten Der Psychoanalytiker und Philo­soph Erich Fromm (1900–1980), ein Nachfahre deutscher Rabbiner, schrieb Folgendes über den Götzendienst: »Nach den Propheten des Alten Testaments ist der Götzendiener ein Mensch, der das Werk seiner eigenen Hände anbetet. Er nimmt sich ein Stück Holz; mit einem Teil macht er sich ein Feuer, um zum Beispiel einen Kuchen zu backen, aus dem anderen Teil des Holzes schnitzt er eine Figur, um diese Figur anzubeten. Doch das, was er anbetet, sind Dinge; diese Dinge haben Nasen und riechen nicht, sie haben Ohren und hören nicht und sie haben einen Mund und sprechen nicht.«

Weiter lesen wir bei Fromm: »Freuds Entdeckung der Übertragung, das heißt die unbewusste Projektion von Erwartun­gen oder alten Gefühlen auf neue Be­zugs­personen, ist viel weitreichender, als er selbst (…) se­hen konnte. Mit der Entdeckung der Übertragung erkannte er zu­gleich eine be­sonders starke Strebung im Menschen: die Neigung zum Götzendienst (Entfremdung).«

Dieses Streben, so Fromm weiter, wurzele in der Zwiespältigkeit der menschlichen Existenz und suche eine Antwort auf die Unsicherheit des Lebens. »Der Mensch versucht, eine Person, eine Institution, ei­ne Idee in etwas Absolutes zu verwandeln, das heißt in einen Götzen, dem er sich unterwirft und der ihm die Illusion von Sicherheit verschafft.« Man könne die psychologische und gesellschaftliche Bedeutung des Götzendienstes im Laufe der Geschichte kaum überschätzen, so Fromm. »Götzendienst ist die Illusion, die eigenes Tätigsein und Unabhängigkeit behindert.«

Verteidigung Nachdem die meisten unserer Schriftgelehrten in die Rolle der Verteidiger schlüpften und das Volk zu schützen versuchten, fanden sie sogar eine Rechtfertigung für die Tat des Hohepriesters Aharon, der dem Druck nachgab und den Götzen anfertigte. Aus der Erzählung entnahmen sie, dass Aharon letzten Endes verziehen worden war. Er durfte weiter als Hohepriester dienen.

Hatte Aharon womöglich nur deshalb so gehandelt, weil er auf diese Weise Zeit gewinnen wollte? Er hoffte auf die Wiederkehr seines Bruders Mosche. Zuerst verlangte er von den Frauen ihren Schmuck als »Rohstoff« für den Götzen: Gold und Silber, das die Israeliten in den letzten Tagen ihrer Sklaverei bei den Ägyptern eingesammelt hatten.

Aharon rechnete anscheinend damit, so meinen jedenfalls die Exegeten, dass sein Wunsch auf Widerstand stoßen würde und die Frauen auf ihren Schmuck nicht verzichten wollten. Es würde länger dauern, bis man sie zur Übergabe ihrer Werte drängte. Und währenddessen könnte Mosche eintreffen. Doch es kam alles ganz anders.

symbol Selbst Maimonides, der Rambam (1138–1204), der namhafteste jüdische Gelehrte des Mittelalters, meint, dass die Israeliten keinen Götzendienst begingen. Sie beabsichtigten lediglich, den ferngebliebenen Mosche durch ein »Symbol« zu ersetzen. »Weil wir nicht wissen, was mit dem Mann Mosche, der uns aus Ägypten holte, geschah«, schreibt die Tora.

Die Israeliten, so der Rambam, wussten gar nicht so recht, was sie eigentlich verlangen sollten. Sie wollten keinen Götzen, sondern lediglich eine symbolische Gestalt, die an Mosche erinnerte.
Doch der kehrte nach 40 Tagen vom Berg zurück. Und als er sah, was aus seinem Volk geworden war, zerbrach er wütend die Tafeln des Bundes.

Der dramatische Vorfall konnte nicht mehr ungeschehen gemacht werden. Solange der Salomonische Tempel in Jerusalem stand, wurden in der Bundeslade neben den neuen Tafeln des Bundes auch die Bruchstücke der ersten aufbewahrt, zur Erinnerung und Mahnung.

Der Autor war von 1981 bis 2002 Landesrabbiner von Württemberg.

inhalt
Zu Beginn des Wochenabschnitts Ki Tissa wird Mosche damit beauftragt, die wehrfähigen Männer zu zählen. Es folgen Anordnungen für das Stiftszelt. Die Gesetze des Schabbats werden mitgeteilt, und es wird die Bedeutung des Ruhetags als Bund zwischen G’tt und Israel betont. Der Ewige gibt Mosche zwei Steintafeln, mit denen er ins Lager der Israeliten zurückkehrt. Dort haben sich die Wartenden in der Zwischenzeit ein Goldenes Kalb gegossen, dem sie Opfer darbringen. Im Zorn darüber zerbricht Mosche die Steintafeln, und der Ewige bestraft die Israeliten mit einer Plage. Später steigt Mosche auf den Berg und erhält neue Bundestafeln.
2. Buch Mose 30,11 – 34,35

Chaje Sara

Handeln für Generationen

Was ein Grundstückskauf und eine Eheanbahnung mit der Bindung zum Heiligen Land zu tun haben

von Rabbiner Joel Berger  22.11.2024

Talmudisches

Elefant

Was unsere Weisen über die Dickhäuter lehrten

von Rabbiner Netanel Olhoeft  22.11.2024

Studium

»Was wir von den Rabbinern erwarten, ist enorm«

Seit 15 Jahren werden in Deutschland wieder orthodoxe Rabbiner ausgebildet. Ein Gespräch mit dem Gründungsdirektor des Rabbinerseminars zu Berlin, Josh Spinner, und Zentralratspräsident Josef Schuster

von Mascha Malburg  21.11.2024

Europäische Rabbinerkonferenz

Rabbiner beunruhigt über Papst-Worte zu Völkermord-Untersuchung

Sie sprechen von »heimlicher Propaganda«, um Verantwortung auf die Opfer zu verlagern: Die Europäische Rabbinerkonferenz kritisiert Völkermord-Vorwürfe gegen Israel scharf. Und blickt auch auf jüngste Papst-Äußerungen

von Leticia Witte  19.11.2024

Engagement

Im Kleinen die Welt verbessern

Mitzvah Day: Wie der Tag der guten Taten positiven Einfluss auf die Welt nehmen will

von Paula Konersmann  17.11.2024

Wajera

Offene Türen

Am Beispiel Awrahams lehrt uns die Tora, gastfreundlich zu sein

von David Gavriel Ilishaev  15.11.2024

Talmudisches

Hiob und die Kundschafter

Was unsere Weisen über die Ankunft der Spione schreiben

von Vyacheslav Dobrovych  15.11.2024

Gebote

Himmlische Belohnung

Ein Leben nach Gʼttes Regeln wird honoriert – so steht es in der Tora. Aber wie soll das funktionieren?

von Daniel Neumann  14.11.2024

New York

Sotheby’s will 1500 Jahre alte Steintafel mit den Zehn Geboten versteigern

Mit welcher Summe rechnet das Auktionshaus?

 14.11.2024