Comeback

Die zweite Chance

Tenach und Talmud erzählen zahlreiche Geschichten von Versagen, Rücktritt und Rückkehr

von Rabbiner Andrew Steinman  07.03.2011 13:18 Uhr

Unterstützer: ein Pro-Guttenberg-Demonstrant am vergangenen Sonntag in Hamburg Foto: dpa

Tenach und Talmud erzählen zahlreiche Geschichten von Versagen, Rücktritt und Rückkehr

von Rabbiner Andrew Steinman  07.03.2011 13:18 Uhr

Rücktritte, zweite Chancen und Comebacks hat es seit Anfang der Geschichte viele gegeben. Zwar war ihr Rausschmiss aus dem Garten Eden alles andere als ein Rücktritt, doch haben Adam und Eva die erste zweite Chance der Menschheit bekommen. Diese mussten sie auch nutzen, wenn sie ihr Dasein weiterführen wollten, und sei es im Schweiße ihres Angesichts in einer völlig anderen Umgebung. Als Comeback lässt sich das kaum feiern. Das wäre laut Maimonides nur gegeben, wenn sich die gleichen Bedingungen wiederholten und der Versuchung zu vergehen widerstanden wird (Mischneh Torah, Teschuwa 2,1).

Ein Comeback im Sinne von Maimonides ist also keine Transformation der äußeren, sondern in erster Linie der inneren Bedingungen. Die äußeren Bedingungen sind dabei weniger dynamisch. Bei der zweiten Chance sieht das anders aus. Da tritt eher ein Muster auf: Der oder die Gefehlten gehen irgendwie woanders hin und damit in sich, bevor sie geläutert weiter vorankommen können.

Moses Die Liste ist lang, sehr lang. Moses etwa ging in die Wüste, als er merkte, dass es Zeugen gab, die gesehen haben, wie er einen Sklavenaufseher erschlug. Eigentlich hoffte er, unerkannt geblieben zu sein. In der Wüste beginnt sein grandioses Comeback an einem brennenden Busch, der ihm die lapidare Auskunft gab: »Ehje! Ich werde sein, der Ich bin« (2. Buch Moses 3,14). Von dieser ominösen Quelle kommt die zweite Chance, wie zuvor schon bei Adam und Eva. Bei Moses reicht es auch zum Comeback, weil er an den Tatort zurückkehrt, aber in jeder Hinsicht geläutert und gestärkt. Er rettet dann nicht nur einen Juden, der drangsaliert wird, sondern gleich alle: Mission accomplished. Natürlich nicht ohne Hilfe von oben, aber das ist in diesem Zusammenhang nicht von Belang.

Moses war in seinem Eifer für Gerechtigkeit sogar derart gesegnet, dass er gleich mehrere zweite Chancen bekam. Man denke nur an seinen Ausruf: »Nun, dass Du ihre Sünde vergebest! Wo aber nicht, lösche mich doch aus Deinem Buch!« (2. Buch Moses 32,32), als er übereifrig um Vergebung und damit um eine zweite Chance für das Volk bei Gott nach der Sünde mit dem Goldenen Kalb bat. Gelöscht wurde er nicht aus dem Buch – dafür aber aus einem Abschnitt daraus (Tezawe). Seine Rückkehr danach reicht dann bis zum letzten Abschnitt; ein Comeback bis zum Schluss.

Pessach scheni Moses verschafft also auch anderen eine zweite Chance, auch weniger bekannte. So ist er auch beteiligt an der Konstruktion eines Datums, welches bis heute im jüdischen Kalender für die zweite Chance steht, wenn auch wenig beachtet: Pessach Scheni. Als das erste Pessachopfer in der Wüste dargebracht werden sollte, beklagten sich die Mitglieder der ersten Chewra Kadischa bei Moses darüber, dass sie am Pessachopfer nicht dabei sein durften (4. Buch Moses 9,7). Schließlich haben sie mitunter die Gebeine des Josef berührt und sich damit mit dem Tod verunreinigt. Gezwungenermaßen waren sie ergo an der Ausführung der Mizwa verhindert, argumentierten aber gegen ihren Status als Anussim (gezwungenermaßen zu einer Mizwa Unfähige). Sie baten Moses daher um Intervention bei Gott, um eine zweite Chance zur Ausführung der Mizwa zu bekommen.

Das tat Moses und verschaffte ihnen eine zweite Chance erster Klasse: Das göttliche Urteil wurde kassiert, und sie durften genau einen Monat später ein Pessachopfer bringen. In der göttlichen Revision hieß es: Wer durch den Tod berührt wurde, »oder auf einer weiten Reise ist« (3. Buch Moses 9,10), der darf eine zweite Chance haben. Unsere Weisen haben darin auch Trauer und Trennung erkannt. Wer durch solche Umstände an der Ausübung einer Pflicht gehindert wird, verdient eben eine zweite Chance.

Pessach Scheni (14. Ijar) ist seither die Erinnerung an diese zweite Chance. Im jüdischen Kalender gibt es weder Frauen-, Mutter- oder Vatertag, dafür eben einen »Zweite-Chance-Tag«. Pessach Scheni ist zwar kein Festtag, aber ein fester Tag mit besonderer Bedeutung im Kalender; wenn auch wenig beachtet. Zweite Chancen sind eben nicht immer offensichtlich.

Josef Es ist kein Zufall, dass dieser Tag im Zusammenhang mit Josef entstand. Josef war der Meister des Comebacks schlechthin. Schon der Name »Josef« weist auf »etwas Zusätzliches« hin. Bereits seine Eltern hatten eine zweite Chance, ihre große Liebe ausleben zu dürfen, nachdem Josefs Vater, Jakob, die Richtige nicht abbekam. Im Gefängnis hat Josef eine Chance zum Comeback genutzt; vom Kerker bis zum Vizekönig! Er bekam nicht nur zweite Chancen, er nutzte sie auch. Und wie einst Moses vergab er auch welche, freilich an seine Brüder. Sie nutzten ihre zweite Chance, und die Brüder fanden endlich ihren Frieden miteinander.

Esther Und jetzt, kurz vor Purim, dürfen wir natürlich nicht unsere heldenhafte Königin Esther vergessen. Sie nutzt eine zweite Chance, die eigentlich ihrer Amtsvorgängerin Waschti galt. Waschti wurde bekanntlich aus dem Amt entfernt, und ihr Kopf gleich mit. Die zweite Chance kommt vom König, und kraft seines Amtes entscheidet er, wer sie nutzt. Schon deswegen ist Königin Esther sehr vorsichtig im Umgang mit ihrem Amt.

Wie wir wissen, war ihr fulminantes Comeback eher ein Coming-Out, nachdem sie zuvor ihre wahre Identität verborgen hielt. Dort, im Verborgenen, war sie wie Moses in der Wüste, auch wenn es ein Harem war. Mit einem grandiosen Auftritt schafft sie es aus dieser Tiefe zu wahrlich königlicher Höhe.

David Weniger königlich (eher peinlich) war die zweite Chance von König David (II Samuel 11-12). Um an die schöne Batschewa zu kommen, schickt er ihren Ehemann Uriah in ein Himmelfahrtskommando. Vom Propheten Nathan zur Rede gestellt, gesteht er, schuldig zu sein. Bis dahin verirrte sich der König immer tiefer ins Unglück, nach der Maxime: wenn es um Selbsttäuschung geht, sind wir alle Genies. Sein Verdienst war, die Wahrheit nicht scheibchenweise, sondern alles sofort zugegeben zu haben. Sein Comeback als König wird verkörpert durch seinen Sohn Schlomo, der aus der Beziehung zu Batschewa hervorging.

Rabban Gamliel Die Liste der Rücktritte, zweiten Chancen und Comebacks im Tenach ist noch lang und setzt sich auch im Talmud fort. Kein Geringerer als Rabban Gamliel wurde zum Rücktritt vom Amt des Vorsitzenden von Jawne bewogen, nachdem er den alten, weisen und allseits geschätzten Rabbi Jehoschua mehrfach brüskierte. Dies erregte bei seinen Kollegen derart Aufsehen, dass sie Rabban Gamliels Rücktritt forderten und den jungen Gelehrten Rabbi Elasar ben Asarja zu seinem Nachfolger bestimmten (man stelle sich vor, ein Papst wird von den Kardinälen abgesetzt!). Rabban Gamliel leistete dann beim altehrwürdigen Rabbi Jehoschua Abbitte (man stelle sich vor, ein Papst leistet Abbitte!). Daraufhin wurde er in sein Amt wieder eingesetzt, welches er fortan mit Elasar ben Asarja teilte (Brachot 28a).

Ausnahme So ziemlich alle, die gefehlt haben, bekamen also in Tora und Talmud ihre zweite Chance. Bekanntlich wird eine Regel erst durch die Ausnahme bestätigt. So müssen Nadaw und Awihu, die beiden Söhne Arons, die ihr priesterliches Amt missbrauchten, als Ausnahme für diese Regel herhalten: Wer im Amt mit dem Feuer spielt, noch dazu mit fremdem Feuer, der bekommt keine zweite Chance (3. Buch Moses 10,1-2). Sie verschwinden auf der Stelle. Ähnlich ergeht es Korach, dem üblen Populisten (4. Buch Moses 16). Er verwirkt jede Chance auf eine zweite Chance wohl schon deshalb, weil solche Populisten schlicht keine zweite Chance verdienen. Gut so. Basta.

Manchmal bedarf es einfach eines glücklichen Umstandes, auch zweite Chance genannt, um geläutert zurückzukehren. Eine chassidische Geschichte erzählt von einem Ganeff (Räuber), der seine nächtlichen Einbrüche durch den Kamin der schlafenden Nachbarn zu begehen pflegte. Bei einem seiner Raubzüge erwischte er ausgerechnet den Kamin des Rabbiners. Als er in einer Staubwolke in dessen Studierstube hinabpolterte, war der Rabbiner wie so oft nachts natürlich beim Studium und somit noch wach. Derart in flagranti erwischt, fragte der Ganeff: »Wie kenn men arois kriechen fun dannet?« (wo kommt man hier raus?). »Am besten durch die Tür«, antwortete der weise Rabbiner und fügte hinzu, als der Ganeff auf dem Weg zur Tür war: »Koydem wisch dir up dus punem unt di klayder« (wisch dir vorher das Gesicht und die Kleider ab).

Der Ganeff nahm die Ajtzeh (Rat) an. Als er sauber vor dem Ausgang stand, bemerkte der Rabbiner: »Itzt sehste ois wi a Mentsch; kennst gehen oif di gass’« (jetzt siehst du ordentlich aus und kannst auf die Straße treten). Dass dies die zweite Chance zu einem besseren Leben und zugleich zum Comeback für den Ganeff als braver Bürger wurde, war klar, als er vor die Tür auf die Straße trat: Dort wurde er von neugierigen Nachbarn, die vom Krach geweckt wurden und schon Schlimmes befürchteten, empfangen. Sie wurden alsbald beruhigt. Derartig sauber wie er war, wurde dem Ganeff unterstellt, er hätte nächtens mit dem Rabbiner gelernt. Fortan musste er jede Nacht zum Rabbiner zum Lernen zurückkehren, um diesen Schein zu wahren.

Voraussetzungen Zur zweiten Chance gehören also einige Voraussetzungen. Der Geläuterte muss zeigen, dass er nicht nur äußerlich geläutert ist. Und die Umstände müssen günstig sein. Wenn dann das Umfeld auch bereit ist, kann es dann schließlich auch eine zweite Chance geben. Die Herausforderung gilt also dem Rückkehrer als auch seinem Umfeld, und kann (muss aber nicht) zu einem Comeback oder gar Happy End führen. In der chassidischen Geschichte wurde der Ganeff übrigens zu einem Talmid Chacham, einem Gelehrten – ob aus freien Stücken oder nicht. Manchmal hat man eben nischt kayn brayra (keine andere Wahl).

Maimonides hat sich, wie gesagt, auch damit auseinandergesetzt und behauptet, man hätte eben doch eine andere Wahl: nämlich weiter zu sündigen (Mischneh Torah, Teschuwa 2,1). Wenn man aber trotz gleicher Umstände die Läuterung wählt, hat man wirklich zurückgefunden und ist ein Ba’al Teschuwa (wörtlich: Herr der Antwort, der Umkehr, der Rückkehr; frei nach Wunsch derer von und zu Guttenberg: Herr des Comebacks).

Der Autor ist Rabbiner der Budge-Stiftung in Frankfurt/Main.

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