In Israel herrscht Krieg – und die Gemüter sind erhitzt. Rabbiner Noam Perel, Generalsekretär der religiösen Jugendbewegung Bnei Akiva, hat vor Kurzem auf Facebook zur Rache für den Mord an den drei israelischen Teenagern aufgerufen – und sich später dafür entschuldigt. Er sei ein Freund von Bat-Galim Shaar, deren Sohn Gilad zu den Ermordeten gehört, und sei schockiert gewesen, nachdem die Leichen der jungen Menschen gefunden wurden, schrieb Perel zu seiner Erklärung.
Perels Post auf Facebook wurde bei Bnei Akiva intern heftig kritisiert – auch deshalb, weil der Rabbiner davon sprach, die »Rächer« sollten sich nicht mit »300 Vorhäuten von Philistern« begnügen. Dabei bezog er sich auf das Buch 1. Samuel 18,27 wo der junge David 200 Philister tötet, um König Saul ihre Vorhäute als Beweis für seine Tat zu bringen – und die Königstochter Michal als Frau zu bekommen.
Die biblischen Bücher sind voller Kriege, und wenn jemand Zitate sucht, um Rache zu rechtfertigen, findet er sie zuhauf. In Zeiten wie diesen stellt sich aber nicht nur die Frage, wie man diese Stellen auslegen soll, sondern auch, wie man mit Gefühlen von Wut umgeht, anstatt zu Rache aufzurufen.
Unrecht In der Bibel steht mehrfach über Gott geschrieben: »Vajichar Af« – »Und sein Gesicht wurde wütend, zornig«. Wenn Gott dieses Gefühl erlaubt ist, warum dann nicht uns? Nirgendwo liest man in unseren Schriften, ein Opfer solle stets die andere Wange hinhalten, wenn es geschlagen wird. Das Judentum ist nicht pazifistisch. Wenn Unrecht geschieht und der Täter keine Reue zeigt, soll man laut aufschreien, so wie es einst die Propheten getan haben.
Wut nur zu verinnerlichen und nicht auszusprechen ist, wie wir wissen, gefährlich für unsere Gesundheit. Opfer von Missbrauch, Vergewaltigung und Vertreibung haben das Recht, laut über die Verbrechen, die an ihnen verübt wurden, zu weinen. Ob sie aber auch Rache nehmen dürfen, ist eine ganz andere Frage.
Sie kommt in anderem Kontext auch in den Toraabschnitten zum Ausdruck, die wir in den vergangenen Wochen gelesen haben. Am Ende des Abschnitts Bemidbar (4. Buch Mose, Kapitel 25, 1–5) wenden sich die Israeliten zum wiederholten Mal vom richtigen Weg ab, sie beugen sich vor Baal Peor, einem Götzenbild der Midianiter, weil sie von den midianitischen Frauen verführt wurden. Gott ist wütend und verlangt die Todesstrafe für die Israeliten, die sich so verhalten haben.
Pinchas Wenig später, im 4. Buch Mose, Kapitel 25, 6–8, ertappt dann Pinchas, ein Priester und Enkel Aharons, einen Israeliten und eine Midianiterin »in flagranti« beim sexuellen Akt. Getrieben durch »heiligen Zorn« folgt er ihnen in ihr Zelt, nimmt einen Speer und durchsticht beide vor den Augen des Volkes. Und dann beginnt die nächste Parascha – und Gott sagt: »Pinchas ... hat meinen Grimm von den Kindern Israels gewendet durch seinen Eifer um mich, dass ich nicht in meinem Eifer die Kinder Israels vertilge« (4. Buch Mose 25,11).
Warum wird die Tat von Pinchas nicht verurteilt? Was er getan hat, ging sogar weiter, als Gott verlangte – Pinchas »bestrafte« nicht nur den Israeliten, sondern auch die Midianiterin. Doch Gottes Lob und Segen hat auch einen Haken, denn Pinchas soll nun im Heer als Art Kaplan amtieren und alle Risiken auf sich nehmen, die für Soldaten üblich sind: »Und er hatte die heiligen Geräte und die Kriegstrompeten bei sich ... und sie töteten alles, was männlich ist« (4. Buch Mose 31,6–7).
Als Norm gilt aber auch, dass religiöser Eifer im Judentum nicht gerne gesehen ist. Es gibt in der Tora die Todesstrafe – aber die Interpreten haben sie sehr sorgfältig eingegrenzt, sodass es einem Sanhedrin fast unmöglich war, sie zu verhängen. In der Zeit der Richter – und Samson kämpfte in dieser Periode gegen die Philister – lesen wir von brutalen Mordtaten (Richter, Kapitel 19,25 ff.), die die Benjaminiter begingen, und wie sie bestraft wurden, obwohl deswegen fast ein Bürgerkrieg auszubrechen drohte.
Psalm 94 Das Motiv der Rache ist der Tora nicht fremd. Wie sollen wir sonst Psalm 94 lesen? »Herr Gott, des die Rache ist, du Gott der Rache, erscheine! Erhebe dich, du Richter der Welt, vergilt den Hoffärtigen, was sie verdienen!« Dieser Psalm ist übrigens nicht in der Liturgie für Erew Schabbat (Psalmen 92 und 93) oder in den Pesukei deZimra für Schabbatmorgen (Psalmen 95–100) zu finden. Er wird nicht bei Beerdigungen (Psalmen 90, 91) gesagt, und er ist kein Teil des Hallel (Psalmen 113–118.) Und nichtsdestotrotz gehört auch dieser »Rache-Psalm« inhaltlich zu all den anderen Psalmen.
Oder was ist mit Psalm 83, in dem Asaph Gott anfleht, nicht länger zu schweigen, während die Feinde Israels (in Philistia, in Libanon, in Moab und Syrien) jubeln und sich für weitere Angriffe rüsten? Es würde mich sehr interessieren, wie Pazifisten diese Psalmen verstehen. Was säkulare Linke denken, weiß ich jetzt schon. Für sie ist das alles nur brutal, primitiv und altmodisch.
Und um einen Zeitsprung zu machen: Von »Nekama«, von Rache, sprachen auch KZ-Überlebende, die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges für Vergeltung einsetzten. Sollten wir denn auch sie verdammen?
Beispiel Pinchas ist für mich kein Held, aber ein Beispiel, wie Wut in einem Menschen ausbrechen kann, wenn er sie nicht mehr kontrollieren kann. Seine Geschichte wird aus der Tora gelesen, um uns zu zeigen, was dann passiert. Pinchas bleibt die Ausnahme, nicht die Regel – aber er gehört zu uns. Auch Pinchas ist nur ein Mensch.
Ich kann an dieser Stelle nicht alle Quellen zitieren, die zum Thema »Wut« und »Rache« passen, aber eines sollte klar sein: Das Gefühl der Wut als solches muss erlaubt sein. Wir sollten es also zulassen und dazu stehen. Ob man unreife und unerfahrene Jugendliche als Rabbiner dazu ermutigen sollte, aus einem Gefühl der Wut heraus Rache zu üben, ist natürlich eine andere Frage. Doch wie wir Juden wissen, sollte »Tschuwa« (Umkehr, Reue) immer möglich sein – und auch als solche akzeptiert werden.
Der Autor ist Landesrabbiner von Schleswig-Holstein.