Gewalt in der Ehe ist ein uraltes Problem. Man könnte meinen, dass die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit in einer zwischenmenschlichen Beziehung im aufgeklärten Europa schon längst der Vergangenheit angehören sollte und dass Fälle häuslicher, sexueller Gewalt nur äußerst selten und eher in Familien mit nichteuropäischem Hintergrund oder nur in sogenannten unteren Schichten der Gesellschaft vorkommen. Aber weit gefehlt.
Nach Informationen der Internetseite www.frauenzimmer.de wurde »ein Viertel der Frauen in Deutschland zwischen 16 und 85 Jahren bereits einmal von ihren Partnern körperlich oder sexuell misshandelt. Frauen werden demnach eher Opfer häuslicher Gewalt als von Raubüberfällen oder Einbrüchen. Und: Ob eine Frau von ihrem Partner erniedrigt und geschlagen wird oder eine Vergewaltigung erlebt, hat nichts mit ihrer Herkunft zu tun – gut ausgebildete Frauen werden genauso zu Opfern ihrer Männer«.
Verletzung Auf der Homepage von »Terre des Femmes – Menschenrechte für die Frauen«, einem Verein, der sich für die Frauenrechte auf der ganzen Welt engagiert, wird das eigene Zuhause einer Frau zum gefährlichsten Ort für sie erklärt: »Häusliche Gewalt ist die häufigste Ursache von Verletzungen bei Frauen: häufiger als Verkehrsunfälle und Krebs zusammengenommen. Für Frauen ist das Risiko, durch einen Beziehungspartner Gewalt zu erfahren, weitaus höher, als von einem Fremden tätlich angegriffen zu werden. Bildung, Einkommen, Alter und Religionszugehörigkeit sind dabei völlig bedeutungslos.«
Dort heißt es weiter: »Männergewalt gegen Frauen und Mädchen kostet die Solidargemeinschaft jährlich mehrere Milliarden Euro, Kosten für Justiz, Polizei, ärztliche Behandlung und Arbeitsausfälle. In 80 bis 90 Prozent der Fälle häuslicher Gewalt sind Frauen die Opfer und Männer die Täter. Jährlich fliehen rund 40.000 Frauen mit ihren Kindern in Frauenhäuser.« Auf der Homepage können sich alle von häuslicher Gewalt Betroffenen die für sie nötigen Informationen und Hilfe holen, junge Mädchen und Frauen werden dort auch genau über ihre Rechte aufgeklärt.
Strafbar Bemerkenswerterweise wurde die Vergewaltigung in der Ehe in der westlichen Gesellschaft erst vor relativ kurzer Zeit als gesetzeswidrig erklärt. Obwohl die Rechtslage in den Vereinigten Staaten von Amerika von Bundesstaat zu Bundesstaat unterschiedlich ist, vertraten bis in die späten 70er-Jahre alle Staaten in den USA die Meinung, dass der Mann gesetzlich berechtigt ist, seine Frau zu vergewaltigen. Erst in den 80er-Jahren haben auch andere westliche Staaten Vergewaltigung in der Ehe zum Gesetzesverstoß erklärt, darüber hinaus haben 35 Staaten die Bestrafung von gewalttätigen Ehemännern sehr vereinfacht.
In England wurde sexuelle Gewalt in der Ehe erst im Oktober 1991 als illegal erklärt. Den Grund, warum derartige Übergriffe nicht bestraft wurden, erläuterte der englische Jurist Sir Matthew Hale im Jahr 1736: Der Ehemann könne nicht als Vergewaltiger seiner eigenen Ehefrau angeklagt werden, da bei Eheschließung die Frau sich dem Gatten für eine Beziehung dieser Art freigegeben habe. Sie könne sich deshalb nicht mehr davon distanzieren. Erst mehr als zweieinhalb Jahrhunderte danach hatte sich die Rechtsauffassung geändert.
Im Oktober 1991, als das House of Lords die Vergewaltigung in der Ehe zu einer Straftat erklärte, begründete Lord Keith den Vorstoß damit, dass sich die Stellung einer Frau und insbesondere einer Ehefrau aus Sicht der Gesellschaft mit der Zeit verändert habe. Die Ehe werde als eine gleichwertige Partnerschaft angesehen. Das hieße, bei einer Eheschließung gebe die Frau ihrem Mann das Recht auf die körperliche Nähe, allerdings unter bestimmten Bedingungen, nämlich dann, wenn sie selbst dazu bereit sei beziehungsweise eingewilligt habe.
In Deutschland wurde die Vergewaltigung in der Ehe erst ab 1997 zur Straftat erklärt, aber nur auf Antrag verfolgt. Allerdings wurde im Jahr 2004 diese zu einem Offizialdelikt erklärt.
Position Doch wie steht das Judentum dazu? Hat der Ehemann das Recht, seine Frau zu schlagen oder sie zu zwingen, ihm sexuell zu Willen zu sein? In dieser Hinsicht ist das jüdische Recht dem westlichen Recht gegenüber wesentlich weiter. Dort wird die sexuelle Beziehung zwischen Ehemann und Ehefrau als die Pflicht des Mannes und das Recht der Frau bezeichnet. Mit anderen Worten heißt das, dass jeder jüdische Ehemann die Pflicht hat, seine Frau, seinen Möglichkeiten entsprechend, sexuell zu befriedigen. Gleichzeitig heißt dies aber auch, dass er selbst nur einen sehr begrenzten Anspruch darauf hat.
Diese Pflicht ist so essenziell, dass sie sogar in der Ketuba, also im Ehevertrag, der vor der Hochzeit erstellt wird und in dem die Pflichten des Mannes aufgelistet werden, erwähnt wird. Insgesamt gibt es drei männliche Pflichten, die in der Ketuba aufgeführt werden: Der Mann muss die Frau ernähren, sie bekleiden und sie sexuell befriedigen. Die Weisen des Talmuds im Traktat Ketubot (47b-48a) leiten diese Pflichten ab aus dem Vers in Schmot 21,10, »soll er ihre Kost, ihre Kleidung und ihre Wohnung nicht verringern«. Einige Kommentatoren sagen, dass die Pflicht des Mannes zur sexuellen Befriedigung seiner Frau aus dem Vers im 5. Buch Moses (24,5) hervorgeht. Dort heißt es: »Und der Mann soll seiner Frau Freude bringen.«
Die anderen Weisen betonen, dass man gar keine Verse aus der Tora dafür brauche, denn man komme dazu durch die Logik (Svarah). So schreibt zum Beispiel Naftali Zvi Yehuda Berlin (1816–1893), bekannt als Netziv, dass der Mann der Frau »der Freude pflichtig« sei. Und wenn der Mann sich weigere, seiner Frau die Freude des Kindergebärens zu schenken, dürfe er gezwungen werden, sich von seiner Frau scheiden zu lassen und ihr die Ketuba auszuzahlen, denn »sie ist nicht seine Geisel, dass sie von ihrem Vergnügen beraubt werden darf«.
Gebot Demzufolge ist das Verweigern der sexuellen Befriedigung der Ehefrau dem Judentum nach ein religiöser Verstoß, weil man sich dem g’ttlichen Gebot widersetzt; unmoralisch, weil man eine andere Person zum Leiden zwingt; und illegal, weil man gegen einen der drei zentralen Aspekte des Ehevertrages verstößt. Außerdem richtet sich die sexuelle Beziehung in einer jüdischen Ehe absolut nach der Frau und ihrer Menstruation, denn solange sie nicht danach in einer Mikwe, dem rituellen Tauchbad, gewesen ist, darf es nur zu einer rein platonischen Beziehung zwischen den Ehepartnern kommen. Damit hat die Gattin ein fast autonomes Entscheidungsrecht, was die Sexualität innerhalb der Ehe angeht.
Aufgrund der Tora-Erziehung wird deshalb von Anfang an bei Männern eine ganz andere Sicht auf die sexuelle Beziehung gefördert. Diese dient auch dazu, die Ehefrauen vor ihren Ehemännern zu schützen und die Möglichkeit einer Vergewaltigung innerhalb einer Ehe zu minimalisieren. Trotzdem gibt es Fälle von sexueller Gewalt, ein klarer Verstoß gegen die Gebote der Tora.
Meinung Bekanntlich gibt es für jeden jüdischen Mann das Gebot zu heiraten. Die meisten glauben, dahinter stecke das Gebot, dass wir uns vermehren sollen. Doch Rabbiner Wilhelm »Shlomo« Wolbe (1914–2005) widerspricht dieser Meinung. Wenn dem so wäre, argumentiert der Rabbiner, dürfe man im Fall einer Scheidung oder Verwitwung, falls es aus der ersten Ehe Kinder gebe, nicht mehr heiraten. Denn das Gebot, sich zu vermehren, wird nach der Lehrmeinung der meisten rabbinischen Meinungen mit einem Sohn und einer Tochter erfüllt.
Welchen Sinn hätte es dann, wieder zu heiraten? Genauso dürften die Ehepaare, die keine Kinder haben können, keine sexuelle Beziehung haben, sonst wäre es eine Verschwendung von Samen. Der wahre Grund zum Heiraten, schreibt Rabbiner Wolbe, sei das Gebot: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Denn nur eine Ehe, in einer Situation, in der man ständig bei- und miteinander ist, gewährt die Möglichkeit, dieses Gebot voll und ganz zu erfüllen. Und die sexuelle Beziehung zwischen den Ehepartnern soll helfen, die Verbindung zwischen beiden und den häuslichen Frieden (schalom bait) zu verstärken beziehungsweise zu festigen.
Keiner von uns möchte geschlagen, unterdrückt, genötigt oder gezwungen werden, etwas gegen seinen Willen zu tun. Die Tora gebietet uns, dies auch nicht anderen anzutun. Doch ganz besonders gilt dieses Gebot gegenüber den Ehepartnern. Aus diesen Gründen ist die Gewalt in der Ehe aus jüdischer Sicht und nach jüdischem Recht absolut inakzeptabel.
Es ist wahrlich bemerkenswert, dass gerade die Gesellschaft beziehungsweise die Religion, die heute so oft als chauvinistisch und frauenfeindlich bezeichnet wird, seit Jahrtausenden versucht, Frauen zu schützen. Sie hat in Hinsicht auf Frauenrechte eine Pionierrolle unter den Gesellschaften inne.
Der Autor ist Rabbiner in Freiburg.