In Ungarn, wo ich aufgewachsen bin, war der Ausspruch des britischen Fußballers Gary Lineker ein geflügeltes Wort: »Fußball ist ein einfaches Spiel: 22 Männer jagen 90 Minuten lang einem Ball nach, und am Ende gewinnen die Deutschen.« Linekers lakonisches Fazit war eine Reaktion auf die Niederlage der englischen gegen die deutsche Mannschaft im Halbfinale der Fußballweltmeisterschaft in Turin am 4. Juli 1990.
»Am Ende gewinnen die Deutschen« – dieses Ergebnis steht für den 25. Mai bereits fest: In einem historischen Finale der UEFA Champions League werden Bayern München und Borussia Dortmund im neuen Londoner Wembley-Stadion aufeinandertreffen.
Niemals zuvor haben zwei deutsche Mannschaften in der Champions League oder ihrem Vorgängerturnier, dem Europapokal der Landesmeister, um die begehrte Trophäe gespielt. Und jedes Team hat dabei die Chance, zum zweiten Mal den Titel zu holen, wobei die Münchener den Europapokal der Landesmeister bereits drei Mal gewonnen haben. Es ist aber auch das dritte Mal innerhalb der vergangenen vier Jahre, dass Bayern im Finale steht.
Ein jüdisches Konzept ist es, allgemeine Lehren für das Leben aus Alltagserfahrungen zu ziehen. So möchte ich hier kurz analysieren, was wir von der diesjährigen Champions League oder auch vom Fußball im Allgemeinen lernen können, und wie dies in Beziehung zu traditionellen jüdischen Werten steht, die von den Lehren unserer Weisen auf uns zurückstrahlen.
Jeschiwa Im Sommer 2004 suchte ich mir eine Jeschiwa in Israel, um dort ein Jahr lang zu lernen. Als ich zum ersten Mal die Jeschiwat Midrasch Schmuel – gelegen im historischen Viertel Schaarei Chesed in Jerusalem – betrat, gab mir das Milieu auf den ersten Blick keinerlei Hinweis darauf, dass es hier auch viel um Sport geht. Zuvor war ich noch nie mit der charedischen Gesellschaft in Kontakt gekommen, und ich hätte von den Jeschiwa-Studenten nicht erwartet, dass sie so gerne Sport treiben. Mit dieser Vorstellung lag ich völlig daneben.
Mein erstes Gespräch mit dem Rosch Hajeschiwa, Rabbiner Binyomin Moskovits, möge ihm ein langes und gutes Leben beschert sein, war eine verblüffende Erfahrung. Rabbiner Moskovits ist eine herausragende Persönlichkeit. Er inspiriert seine Studenten und weckt ihre Fähigkeit zu unabhängigem und klarem Denken. Ich erwartete viele Fragen von ihm, aber nicht diese: »Treiben Sie Sport?« Aber genau das war eine seiner Fragen an mich. Und dann zählte er mir sogleich die vielen verschiedenen Möglichkeiten auf, zusammen mit den anderen Studenten Sport zu treiben: Fußball, Basketball und anderes mehr.
STRATEGIE Er erklärte mir die Wichtigkeit des Sports: Wenn man in einer Mannschaft spielt, muss man sich sehr anstrengen, um zu punkten, eine Strategie ersinnen, um bis an das gegnerische Tor oder an den Korb zu gelangen, und eine wirkungsvolle Verteidigung gegen die Versuche der gegnerischen Mannschaft aufbauen. Wenn man dann schließlich das Tor schießt oder den Korb macht, ist das Gefühl fantastisch: Wir haben es geschafft!
Und genau das ist es, was man erfahren soll, wenn man nach langwieriger und anstrengender Auseinandersetzung mit einer schwierigen Sugia – einem Abschnitt des Talmuds oder anderer rabbinischer Texte – um die verschiedenen Meinungen, das Für und Wider, versteckt oder stark im Text verschlüsselt, zu wahrem Verständnis gelangt. Wenn man es aber schließlich geschafft hat, dann hat man beim Verstehen gepunktet.
»Das ist der Grund«, sagte mir Rabbiner Moskovits, »warum wir unsere Studenten nachhaltig ermutigen, Sport zu treiben: Sie sollen dieses Gefühl kennenlernen, um es schließlich auch in ihr Tora-Lernen einbringen zu können.« Wir sollen Sport nicht als Selbstzweck treiben, sondern um uns körperlich fit und gesund zu halten, so wie es die Tora im 5. Buch Mose 4,15 betont: »So hütet eure Seelen sehr.« Deshalb dürfen wir nie das Mittel und den Zweck verwechseln. Sport ist ein sehr wichtiges Mittel in unserem Leben, damit wir unsere Ziele – den wahren Zweck – erfüllen können.
PARIS Als ich im August 1998 zum ersten Mal in meinem Leben Paris besuchte, war ich besorgt. Zuvor hatte ich ständig von anderen gehört, wie unfreundlich und abweisend die Franzosen sein können, und wie schwer es für einen des Französischen Unkundigen sein kann, sich zurechtzufinden, da die Einheimischen sich nicht gerne mit Touristen unterhielten.
Was ich dann aber selbst erfahren habe, war etwas völlig anderes: Die Menschen in Paris waren überaus freundlich, höflich und hilfsbereit. Meine Eltern und ich standen an einer Bushaltestelle, als ein älteres Paar direkt vor uns mit dem Auto anhielt und begann, etwas auf Französisch zu erklären. Als wir ihnen daraufhin sagten, wir sprächen keine der romanischen Sprachen, wiederholten sie ihre Erklärung auf Englisch und sagten uns, wir sollten doch nicht weiter umsonst an dieser Bushaltestelle warten, da der Bus wegen Bauarbeiten umgeleitet werde.
Optimismus Die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft waren genau das Gegenteil dessen, was wir erwartet hatten. Und dann wurde uns klar: Nur eine Woche zuvor hatte die französische Fußballnationalmannschaft das Finale der Weltmeisterschaft genau hier in Paris gegen die Mannschaft aus Brasilien gewonnen. Das ganze Land fühlte sich, als wäre dies der persönliche Erfolg jedes Einzelnen. Die Euphorie, Erster im weltweiten Fußball zu sein, führte zu landesweitem Optimismus und guter Stimmung.
Ich fühlte mich an den Ratschlag unserer Weisen in Pirkei Avot (3,2) erinnert: »Rabbi Chanina, der Stellvertreter des Hohepries- ters, sagte: ›Bete für das Wohl der Obrigkeit, denn gäbe es keine Furcht vor ihr, würde einer den anderen lebendig verschlingen.‹« Wir sehen und erfahren ständig, wie Gesellschaften in Extrempositionen verfallen können, wenn sie aus unterschiedlichsten Gründen unglücklich oder unzufrieden sind. Das ist eine wahre und ständig präsente Gefahr.
Manchmal jedoch, auch wenn es nur vorübergehend ist, können bestimmte Ereignisse die allgemeine Stimmung zum Besseren wenden. Ein möglicher Weg, das spirituelle Wohlergehen eines Landes sicherzustellen, kann sein, dass alle fühlen, Teil eines Erfolges zu sein. Der Sieg der Nationalmannschaft wird überall in einem Land gespürt. Man stelle sich nur vor, wie die allgemeine Stimmung hierzulande gewesen wäre, hätte im Jahr 2006 die deutsche Nationalelf die Fußballweltmeisterschaft gewonnen.
Werte Seit feststeht, dass die Bayern und die Borussen am 25. Mai um den Titel der Champions League spielen werden, haben viele Journalisten die Frage gestellt, wie es zu diesem Erfolg gekommen sei. Schaut man genau hin, erkennt man, wie viele Schlüsselelemente für diesen Erfolg Ideen sind, die von der Tora und jüdischen Werten ausgehen.
Erstens geht es um finanzielle Stabilität. Es gab eine Zeit, als in den europäischen Fußballligen die englischen, italienischen und spanischen Mannschaften einfach erfolgreicher als die deutschen waren, weil das deutsche finanzielle Fair Play den Vereinen nicht erlaubte, riesige Schuldenberge anzuhäufen, wohingegen Vereine aus den anderen Ländern trotz finanzieller Probleme teure Spieler einkaufen konnten. Die deutschen Vereine waren so gezwungen, mit Bedacht zu investieren, konnten aber ihre – jetzt sehr erfolgreichen – Mannschaften langsam, Stück für Stück, aufbauen.
Landauer Kurt Landauer, mehrfacher Präsident des FC Bayern München, zuletzt von 1947 bis 1951, hat daran maßgeblichen Anteil. Als Jude war er vor Verfolgung aus Deutschland in die Schweiz geflohen und kehrte später wieder nach München zurück. Er ist wahrscheinlich die wichtigste Person in der Erfolgsgeschichte des Vereins bis heute. Unter seiner Führung wurden die Grundlagen für erfolgreiches und wirtschaftlich verantwortliches Arbeiten gelegt. Das Konzept, nicht so viel auszugeben, dass man in Gefahr geriete, zu verarmen, ist ein wirklich jüdisches Konzept, das in der rabbinischen Literatur und in der Halacha immer wieder betont wird.
Nachhaltigkeit ist ein weiterer wichtiger und unerlässlicher Faktor. Der einzige Weg in eine erfolgreiche Zukunft ist es, in die Jugend und deren (Aus-)Bildung zu investieren. So gut wie jeder große und erfolgreiche deutsche Fußballverein hat seine eigene Nachwuchsausbildungsstätte, die Schulung und Training auf sehr hohem Niveau bietet und somit attraktiv ist. Dadurch ist es in der multikulturellen deutschen Gesellschaft möglich, in diesen Ausbildungs- und Trainingsstätten eine »World-All-Star-Mannschaft« heranzuziehen.
Zusammenspiel Unsere Weisen sagen, das Wort Jisrael sei eine Abkürzung für Jesch Schischim Ribuj Otijot LaTora – es gibt 600.000 Buchstaben in der Tora. Die Zahl selbst ist symbolisch, aber sie repräsentiert das ganze jüdische Volk. Bei einer Torarolle gilt: Ist ein Buchstabe nicht vollständig, so ist die Rolle nicht vollständig und kann nicht genutzt werden. Genauso gilt für eine Mannschaft: Fehlt ein Spieler, oder ist er nicht willens, die ihm zugedachte Funktion zu erfüllen, so kann die Mannschaft als Ganzes nicht funktionieren. Oder ganz allgemein: Selbst das kleinste Teil hat seine bestimmte, unerlässliche Funktion in einem großen Ganzen. Ohne das richtige Zusammenspiel aller Teile funktioniert nichts!
Das Judentum und seine Lehren sind nicht wie andere Religionen. Man kann nicht einfach Dinge fühlen. Es ist vielmehr ein langer Weg, den man Schritt für Schritt gehen muss, in langen Jahren harter Arbeit. Nur dies kann Früchte tragen, und nur so ist ein beständiger Erfolg möglich. Es gibt keinen anderen Weg.
Der Autor ist Rabbiner der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig. (Mitarbeit: Sebastian Krause und Rabbiner Avraham Radbil)