An diesem Sonntag wird in Deutschland der Volkstrauertag begangen. Die wenigsten wissen genau, was das ist. Das geht allerdings auch den nichtjüdischen Deutschen so. Doch jedenfalls scheint klar zu sein, dass er uns Juden, die jüdische Gemeinschaft, nichts angeht. Aber stimmt das wirklich?
Was ist überhaupt der Volkstrauertag? Nach dem Ersten Weltkrieg suchte man in den Ländern Europas nach einer angemessenen Form des Gedenkens an die Millionen Toten des Krieges. Während für Frankreich und Großbritannien der Tag des Kriegsendes am 11. November zugleich der Tag des Sieges war, kam er in Deutschland als Tag der Niederlage nicht infrage. Stattdessen wurde ein Sonntag in der Fastenzeit vor Ostern als »Volkstrauertag« begangen. Faktisch wurde er aber vor allem zum Gedenktag der bürgerlichen Rechten und diente der Glorifizierung der Toten als Helden, während die Linke wenig Bezug zu diesem Tag fand.
»Heldengedenktag« In der NS-Zeit wurde der Name in »Heldengedenktag« geändert und auf den zweiten Sonntag der Fastenzeit gelegt. Ab 1939 wurde er vom christlichen Kalender gelöst und am 16. März begangen, dem Tag der Wiedereinführung der Wehrpflicht 1935. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der »Volkstrauertag« zum seit 1952 durch Ländergesetze geschützten »stillen Tag«, an dem ähnlich wie am Karfreitag öffentliche Vergnügungen gesetzlich eingeschränkt sind. Er wurde auf den Sonntag zwei Wochen vor dem ersten Advent gelegt – richtet sich also wieder nach dem kirchlichen Kalender und findet immer Mitte bis Ende November statt.
Ein wichtiger Grund hierfür ist, dass beide großen Kirchen im November Totengedenktage haben, Allerseelen und Totensonntag. Nur zwei Bundesländer haben dabei genauer festgelegt, wessen am Volkstrauertag gedacht werden soll. In Hessen ist der Volkstrauertag der »Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus und die Toten beider Weltkriege«. Auch in Hamburg geht es um »die Opfer des Nationalsozialismus und die Gefallenen beider Weltkriege«.
Im Laufe der Jahrzehnte verschob sich der Fokus immer mehr von den gefallenen deutschen Soldaten und getöteten Zivilisten zu allen Toten, also auch zu den Opfern der deutschen Herrschaft im besetzten Europa. In den vergangenen Jahren kam das Gedenken an die bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr getöteten Soldaten hinzu.
27. jaNUAR Mit dem 9. November und dem 27. Januar, dem Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, gibt es zwei Daten, die spezifisch der jüdischen Opfer gedenken. Dies sind keine jüdischen Gedenktage, sondern deutsche Gedenktage für die jüdischen Opfer. Was aber sind jüdische Gedenktage, und wie sehen sie aus?
Zentral für die jüdische Erfahrung von Tod und Trauer ist die individuelle Trauer um die Toten von der Beerdigung bis zum Ende des Trauerjahres, an das sich das jährliche Gedenken der »Jahrzeit« des Todestages anschließt. Ebenso der Erinnerung an die einzelnen Toten dient viermal im Jahr das »Jiskor«. An die kollektiven Katastrophen des jüdischen Volkes seit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem wird an Tischa beAw im Hochsommer erinnert.
Im modernen Staat Israel wird ein Tag der Erinnerung an die Opfer der Schoa eine Woche vor dem Gedenktag an die Gefallenen der Kriege Israels begangen. Diese Tage (Jom Haschoa und Jom Hasikaron) bilden den Vorspann zum Unabhängigkeitstag Israels (Jom Haazmaut). Ministerpräsident Begin versuchte in den 70er-Jahren, Jom Haschoa nicht mehr nach diesem säkularen Kalender, sondern an Tischa beAw gemäß dem religiösen Kalender zu begehen, konnte sich aber damit nicht durchsetzen.
9. Mai Heute ist auch der 9. Mai als einziger Tag, der nicht dem jüdischen Kalender folgt, ein offizieller Gedenktag Israels. Dieser Tag führt dabei in Israel auch die Erinnerung an die nichtjüdischen Soldaten der Alliierten ein, die Deutschland besiegten und so die Schoa beendeten.
Doch auch die religiösen Formen des Gedenkens sind nicht so »rein jüdisch«, wie man annehmen könnte. Die Form, in der »Jiskor« heute in fast allen aschkenasischen Synagogen praktiziert wird – emotional wohl die intensivste Erinnerung an die Schoa in den jüdischen Gemeinden –, wurde erst Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland als Teil der allgemeinen Suche nach einer angemessenen öffentlichen Trauer um die Gefallenen der Befreiungskriege gegen Napoleon entwickelt. Hier sieht man, wie es angesichts einer gemeinsamen Erfahrung – auch Juden nahmen als Freiwillige am Krieg teil – auch zu gemeinsamem Gedenken oder zumindest zu ähnlichen Formen des jeweils eigenen Gedenkens kommen konnte.
Nachkriegssymbiose Jüdische Präsenz an heutigen deutschen staatlichen Gedenkakten folgt oft einem klaren Muster. Juden repräsentieren die Opfer. Ihre Anwesenheit dient explizit oder implizit dem Nachweis der erfolgreichen deutschen Wandlung vom Täter zum reuigen Sünder. Diese deutsch-jüdische Nachkriegssymbiose unterscheidet aber nicht nur zwischen Opfern und Tätern, sondern zugleich auch zwischen Juden und Deutschen. Juden müssen der Andere bleiben, damit sie Adressat der gebesserten Deutschen sein können.
Der seit den 80er-Jahren unternommene Versuch, pauschal der »Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft« zu gedenken, sollte es einer neuen deutschen Generation ermöglichen, an die (nichtjüdischen) deutschen Soldaten und Zivilisten zu erinnern, ohne nationalistisch oder chauvinistisch zu sein. Zu wenig bedacht wurde dabei, dass im Tod vereint werden soll, was im Leben als Täter und Opfer geschieden war. An die ermordeten Juden zusammen mit den Soldaten von Wehrmacht und Waffen-SS zu erinnern, eröffnete neue Abgründe.
Die entscheidende Frage ist, ob es überhaupt ein Gedenken für die toten deutschen Soldaten und Zivilisten geben sollte oder nicht. In der bundesrepublikanischen Gesellschaft gab es eine starke Tendenz, Reue über die deutschen Verbrechen der Nazizeit mit einer Ablehnung jeglichen Gedenkens der deutschen Toten des Zweiten Weltkriegs zu verbinden.
Waffen-SS Zum einen war das damals emotional verständlich angesichts der durchaus noch vorhandenen Selbstrechtfertigung von Veteranen der Wehrmacht und der Waffen-SS. Andererseits aber stellte sich die Frage, inwieweit man einer Gesellschaft trauen kann, die Millionen von Toten aus ihrer Erinnerung streicht, weil es angenehmer ist, obwohl diese Toten, unabhängig davon, was sie jeweils individuell verbrochen haben mögen, im Namen und auf Befehl dieses Landes in den Krieg geschickt wurden.
Angesichts dieser Geschichte kann man es keinem Juden, keiner Jüdin verdenken, wenn sie nicht den Wunsch empfinden, am Volkstrauertag teilzunehmen. Zumal sie damit der großen Mehrheit in Deutschland gleichen. Und doch gibt es Argumente, die für eine Teilnahme sprechen. Nicht ideologisch, sondern eher sozial begründet ist die Teilnahme für Repräsentanten der jüdischen Gemeinschaft. Wenn man immer zu offiziellen Ereignissen eingeladen ist und der Volkstrauertag in bester demokratischer Gesinnung begangen wird, so stellt sich die Frage, warum man gerade jetzt nicht kommt.
Rechtspopulisten Außerdem stellt sich die Frage, ob man das Gedenken an die Toten wie in der Weimarer Republik den Rechten überlassen möchte und so eine neue Tendenz zu nationalistischer Engführung unterstützt. Dass die neuen Rechtspopulisten alles für ihre Zwecke umformen möchten und dabei immer gerade so weit an die nationalsozialistische Zeit anknüpfen, wie es gerade noch verfassungskonform scheint, ist offenkundig. Ein noch stärkeres Argument für eine Teilnahme ist das mit dem Volkstrauertag verbundene Gedenken an die Toten des Ersten Weltkriegs. So wird an diesem Tag eben auch der 12.000 gefallenen jüdischen Soldaten Deutschlands gedacht.
Das wichtigste Argument aber ist die jüdische Tradition, sich für das Gemeinwesen einzusetzen, in dem man lebt. So befiehlt der Prophet Jeremia (29,7) den nach Babylon Verschleppten, für das Wohl Babylons zu beten, denn das Wohlergehen dieser Stadt werde auch jenes der Exilierten bedeuten. Hierauf beruht die jüdische Tradition, für das Wohl der Regierung zu beten. Nicht für den Sieg der Waffen des Landes, sondern dafür, dass Gott die in Verantwortung Stehenden leiten möge. In diesem Sinne ist auch eine Teilnahme am Volkstrauertag gut und richtig.
Der Autor ist Rabbiner und lebt in Berlin.