Herr Rabbiner Goldschmidt, Sie haben kürzlich an einem interreligiösen Dialogforum teilgenommen, das in Zusammenarbeit mit Saudi-Arabien veranstaltet wurde. Erkennen Sie Anzeichen dafür, dass das Land toleranter und offener gegenüber anderen Glaubensrichtungen wird?
Die Tatsache, dass ich von Riad eingeladen wurde, zeigt, dass die Toleranz in Saudi-Arabien größer geworden ist. Es gibt in der arabischen Welt generell mehr Offenheit, auch aufseiten der Regierenden. Was dort aktuell im Verhältnis zu Israel und zum Judentum passiert, ist revolutionär. Und für konservative islamische Religionsführer wäre es so gut wie unmöglich, einen interreligiösen Dialog mit Juden ohne die Unterstützung ihrer jeweiligen Regierungen zu führen.
Was ist der gemeinsame Nenner bei solchen interreligiösen Veranstaltungen?
Die Suche nach gemeinsamen Werten und Interessen. In unserer Zeit, in der oft Nationalismus, religiöser Extremismus und Identitätspolitik im Mittelpunkt der Politik stehen, haben solche Treffen eine moderierende Wirkung.
Was können religiöse Führer praktisch tun, um die Dinge zu verbessern?
Sie können solche Treffen publik machen und weitere gemeinsame Projekte und Veranstaltungen initiieren. Die Schaffung eines muslimisch-jüdischen Führungsrats unter der Schirmherrschaft des Wiener
Dialogzentrums ist zum Beispiel eine Erfolgsgeschichte. Hier werden sehr konkrete Dinge besprochen.
Gibt es etwas, was der Westen von den arabischen Ländern lernen könnte?
Gerade jetzt, da die Golfstaaten offener und toleranter werden, sollte Europa nicht in die entgegengesetzte Richtung gehen, beispielsweise durch die Beschränkung religiöser Freiheiten. Wenn in der arabischen Welt neue jüdische Gemeinden entstehen, hierzulande aber schließen müssen, weil etwa Brit Mila oder Schechita verboten werden, sollte das ein Warnschuss für Europa sein.
In vielen westlichen Gesellschaften nimmt der Einfluss der Religion ab. Sehen Sie Raum für ein gemeinsames Vorgehen der drei abrahamitischen Religionen in Europa?
Ja. Europa muss aus den politischen Turbulenzen, die durch Terrorismus, Einwanderung und Corona verursacht werden, herauskommen und zu seinen Gründungsprinzipien zurückkehren.
Die jüdische Gemeinde in den Vereinigten Arabischen Emiraten wird bald einen zweiten Rabbiner bekommen. Glauben Sie, dass man vielleicht auch bald ein jüdisches Gemeindezentrum in Riad eröffnen wird?
Inschallah. Warum sollte das eines Tages nicht auch in Riad möglich sein? Alles kommt zu seiner Zeit.
Das Interview mit dem Präsidenten der Europäischen Rabbinerkonferenz führte Michael Thaidigsmann.