Wenn die Ausübung des Judentums auf dem Besuch der Synagoge basiert und der Besuch der Synagoge auf dem passiven Aufsagen der Gebete, dann hat das Judentum ein Problem. Das Ritual des eintönigen gemeinsamen Betens hat vielleicht im osteuropäischen Schtetl geholfen, die Juden bei der Stange zu halten, im heutigen Amerika aber funktioniert es nicht mehr.
Vielen Juden – insbesondere nichtreligiösen – erscheint der Akt des Betens an sich seltsam. Wofür bete ich? Schuldet mir Gott mehr als das, was ich bereits habe und als selbstverständlich ansehe? Und wenn ich für etwas bete, um Gesundheit zum Beispiel, wäre es nicht besser, ich ginge ins Fitnessstudio und achtete auf meine Ernährung?
Es könnte wirklich sein, dass Beten das größte Problem für die Annahme des Judentums darstellt. Warum müssen die Menschen ihre Zeit mit etwas verplempern, was sie im Grunde gar nicht verstehen und von dem sie nicht glauben, dass es ihnen nutzt? Die Synagogengemeinden spüren diese Vorbehalte sehr wohl. Das ist einer der Gründe dafür, warum sie den Wert der Gemeinschaft so sehr betonen. Mitglied einer Synagoge zu werden, bedeutet, einer erweiterten »Familie« anzugehören, die ein Unterstützungs- und Freundschaftsnetzwerk bietet, rabbinischen Beistand bei Geburt, Hochzeit und Todesfall, Privilegien (wie etwa feste Plätze) an den Hohen Feiertagen, Sonderkurse, Programme und vieles mehr.
Modell Synagogen sind für ihr Überleben auf Mitgliedsgebühren angewiesen. Dieses traditionelle Synagogenmodell wird so bald nicht verschwinden, kann so bald nicht verschwinden. Aber wenn die jüdische Welt einen Durchbruch sucht in ihrem Bemühen, all jene Juden zurückzugewinnen, die sich nicht zugehörig fühlen, die dem Judentum gleichgültig gegenüberstehen oder desillusioniert sind, wäre sie gut beraten, dieses alte Modell unter die Lupe zu nehmen und mit einer Reihe sinnvoller Upgrades zu experimentieren.
Ein guter Ausgangspunkt wäre, das Gebet neu zu definieren, sodass es auf seinen eigenen Füßen stehen kann. Überall in den USA wurde in den Synagogen bereits vielversprechende Arbeit auf diesem Gebiet geleistet. Ein gutes Beispiel sind spirituelle Gemeinschaften wie IKAR, Nashuva und die Carlebach-Minjans, die beinahe wie Stammesrituale anmutende Gebetsgottesdienste anbieten, mit mitreißenden Melodien und gemeinsamem Sprechgesang.
Doch eine andere Gebetsmethode, die meiner Meinung nach nicht genügend beachtet wird und mir besonders vielversprechend scheint, ist die Idee einer »Gebets-Erzählung«. Diese Methode ist ein eher introspektiver Ansatz, durch den der Gottesdienst zu einer persönlichen spirituellen Reise wird, bei der der Betende von Anfang bis Ende eine tiefe Verbundenheit zu den Gebeten fühlt.
Ich erörterte diese Idee letztes Jahr mit meinem Freund Rabbi Yoel Glick, einem spirituellen Lehrer, der in Südfrankreich lebt und eine Website mit dem Namen »Daat Elyon« betreibt. Er war fasziniert von der Herangehensweise und schrieb eine »siebenstufige geistige Reise« für den Gottesdienst am Schabbatmorgen. Dieser siebenstufige Führer verändert keines der eigentlichen Gebete, sondern rahmt sie auf eine Weise, die ihnen eine tiefe persönliche Bedeutung verleiht.
Stufen Jeder Gebetsabschnitt öffnet ein Thema, an das der darauffolgende Abschnitt anknüpft. Die ersten drei Abschnitte führen zum Höhepunkt, dem Schema Israel, während die letzten drei Abschnitte die Auflösung bilden. Glick thematisiert die sieben Stufen wie folgt: »Bewusstsein«, »Dankbarkeit und Anerkennung«, »Erkenntnis Gottes und des Guten«, »Bejahung – Licht und Liebe«, »Gemeinschaft«, »Kontemplation« und am Schluss »Tikkun Olam und Einssein«.
Für jedes Thema führt er spirituelle Einsichten auf, die man beim Beten mitbetrachtet. In der ersten Phase zum Beispiel (»Bewusstsein«) meditiert man über »eine Reihe von Segnungen, durch die wir uns des außerordentlichen Segens bewusst werden, ein leben- der, atmender und ichbewusster Mensch zu sein«. Die Reise erfordert Mühe und Konzentration, doch das Ziel ist, sich am Ende des Gottesdienstes geistig lebendiger und sowohl dem Glauben als auch seinem eigenen einzigartigen Lebenszweck enger verbunden zu fühlen.
Der Gebetsleitfaden wirkt wie spirituelles Konditionstraining. Genauso wie ein persönlicher Trainer dazu anleitet, verschiedene Teile des Körpers zu trainieren, leitet Glick dazu an, verschiedene Teile der eigenen Seele und des eigenen Menschseins zu trainieren.
verbesserung Schwer vorstellbar, dass dieser persönliche und introspektive Ansatz – den jeder in jeder Art von Gebetsgottesdienst anwenden kann – keine Verbesserung darstellt gegenüber dem passiven Aufsagen von undurchsichtigen Gebeten, die viele von uns überhaupt nicht verstehen. Das Beste für mich aber ist die Tatsache, dass Glick eine sinnvolle Antwort auf die Frage bietet, die das moderne Judentum dringend beantworten muss: »Was kann mir das Judentum geben?«
Diese Frage soll keine Beleidigung sein. So sieht die Realität nun einmal aus – in der heutigen Welt wird das Judentum nur dann erfolgreich sein, wenn es etwas Reales und Sinnvolles zu bieten hat. Das Beten neu zu definieren, damit es persönlicher und sinnvoller wird, ist ein wichtiger Baustein, wenn wir die Millionen von Juden gewinnen wollen, die am Samstagmorgen überall sein wollen, bloß nicht in einem Gebetshaus.
An den Hohen Feiertagen pilgern jedes Jahr Massen von Juden zur Synagoge. Unsere spirituellen Führer sollten anfangen, über eigene Methoden nachzudenken, wie sie ihrem Gottesdienst mehr Bedeutung verleihen können. Es ist umso wahrscheinlicher, dass all diese Menschen auch an gewöhnlichen Schabbatot wiederkommen, wenn sie das Gefühl haben, dass sie etwas erleben, was ihr Leben im spiritueller Hinsicht verbessert – und auch in anderen Bereichen.
Ich sehe es so: Wenn die Leute aus dem Fitnessklub kommen und sich großartig fühlen, wieso können sie sich nicht genauso fühlen, wenn sie aus einem Gottesdienst kommen? Ist Gott nicht mächtiger als ein Fitnessklub?
David Suissa ist Präsident von TRIBE Media Corp./Jewish Journal. Übersetzung und Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. davids@jewishjournal.com.