Das 1873 gegründete Hildesheimer Rabbinerseminar zu Berlin war bis zu seiner Zwangsschließung 1938 die bedeutendste und renommierteste Rabbinerausbildungsstätte Westeuropas. Die Vision des Rabbiners Ezriel Hildesheimer von einer umfassenden Rabbinerausbildung, die das traditionelle Studium von Talmud und Halacha mit einer Ausbildung in weltlichen Fächern verbindet, war einer der wichtigsten Meilensteine des orthodoxen Judentums im 19. Jahrhundert.
1922 übernahm ein junger Rabbiner aus Litauen das prestigeträchtige Amt des Direktors. Rabbiner Avraham Eliyahu Kaplan war damals erst 32 Jahre alt und besaß nicht einmal einen Universitätsabschluss. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern, die das Rabbinerseminar jahrzehntelang geleitet hatten, war es ihm nur vergönnt, dieses Amt zwei Jahre lang auszuüben: 1924 starb Rabbiner Avraham Eliyahu Kaplan im Alter von nur 34 Jahren und wurde auf dem Friedhof der Gemeinde Adass Jisroel in Berlin-Weißensee beigesetzt.
Trotz der kurzen Zeit, die er in Berlin verbracht hatte, habe es in Berlin zuvor keine derartige Trauer gegeben, bezeugte Rabbiner Isidor Grunfeld später, der an der Beerdigung teilgenommen hatte. Wer war also Rabbi Avraham Eliyahu Kaplan, und wie konnte er das Berliner Rabbinerseminar in nur zwei Jahren so stark prägen?
Rabbi Avraham Eliyahu Kaplan wurde am 16. November 1889 in Kèdainiai, Litauen, geboren.
Rabbi Avraham Eliyahu Kaplan wurde am 16. November 1889 in Kèdainiai, Litauen, geboren. Er erhielt den Namen seines Vaters, der wenige Monate vor der Geburt seines Sohnes, ebenfalls im sehr jungen Alter von 33 Jahren, gestorben war. Nach der Wiederheirat seiner Mutter zog die Familie nach Telz, wo Kaplan an der Telzer Jeschiwa studierte. Schon als Jugendlicher fühlte er sich zur Mussar-Bewegung des Rabbi Israel Salanter hingezogen.
»Talmud Tora von Kelm«
In dieser Lehre wird besonderer Wert auf die Verfeinerung der Charaktereigenschaften und die gründliche Analyse der Beweggründe für jede Handlung gelegt. Um sich darin zu vertiefen, schloss sich Kaplan dem »Talmud Tora von Kelm« an, einer Mussar-Institution, später ging er nach Slabodka, um in der Jeschiwa von Rabbi Nosson Zvi Finkel zu lernen. Er wurde einer der engsten Schüler des »Alten von Slabodka«. Acht Jahre blieb er dort und erhielt auch seine Rabbinerordination, die Smicha.
Während des Ersten Weltkriegs kehrte Kaplan nach Telz zurück und wurde gesellschaftlich und politisch aktiv. Er gründete die orthodoxe Jugendorganisation »Zeirei Israel« für Jungen und parallel dazu »Agudat Bnot Israel« für Mädchen. Im Gegensatz zum Großteil der litauischen Orthodoxie, die sich klar gegen den Zionismus positionierte, schrieb Rabbi Kaplan: »Je mehr sich mein Glaube an G’tt festigt, desto stärker wird meine Affiliation zum Zionismus.« Er hielt sogar eine Trauerrede (Hesped) für dessen Urvater Theodor Herzl, der alles andere als streng religiös war.
1920 wurde Kaplan als Dozent an das Rabbinerseminar zu Berlin berufen, wo er das eigens für ihn eingeführte Fach der mündlichen Tora unterrichtete. Zwei Jahre später wurde er Nachfolger von Rabbiner David Zvi Hoffmann als Direktor des Rabbinerseminars. Am 19. Mai 1924, dem 15. Ijar 5684, erlitt er, vertieft in sein Torastudium, einen Schlaganfall, an dessen Folgen er starb.
Auswahl seiner Schriften, Gedichte und Briefe
Was das orthodoxe Judentum und insbesondere die Welt der Tora durch den frühen Tod dieses außergewöhnlichen jungen Gelehrten verloren hat, ist kaum zu greifen. Eine Auswahl seiner Schriften, Gedichte und Briefe wurde 1988 in Jerusalem veröffentlicht, aber er hatte noch viel mehr vor.
So plante Kaplan, einen neuen umfassenden Kommentar zum gesamten Talmud zu verfassen, der die für die litauischen Jeschiwot typische tiefgründige Lernmethode mit der wissenschaftlichen Analyse des Talmuds verbinden sollte.
Rabbi Yaakov Kamenetsky (1891–1986), ein Freund von Rabbi Kaplan aus der Slabodka-Zeit und einer der führenden amerikanischen Toragelehrten der vorangegangenen Generation, sagte einmal, dass diese neue Methode das gesamte Lernsystem der Jeschiwa verändert hätte.
In seiner kurzen Zeit in Berlin wurde er trotz seines jungen Alters schnell zu einer der bedeutendsten Tora-Autoritäten in Deutschland und zur Adresse für komplexe halachische Fragen. Darüber hinaus redigierte er den hebräischen Teil des Jeschurun, indem er Aufsätze zur jüdischen Weltanschauung veröffentlichte.
Der orthodoxe litauische Rabbiner Kaplan hielt eine Trauerrede für den Zionisten Theodor Herzl.
In das Berliner Rabbinerseminar importierte er die tiefgründige Lernmethode und den Mussar aus Litauen. Er offenbarte den Studenten die Tiefe einer Svara (eines logischen Gedankens) und die Dimensionen der menschlichen Seele.
Vergleicht man die Entstehung des Rabbinerseminars mit der Erschaffung eines Menschen, so könnte man sagen, dass die ersten Direktoren Rabbiner Hildesheimer und Rabbiner David Zvi Hoffmann den Körper geschaffen haben und Rabbiner Awraham Eliyahu Kaplan ihm die Seele eingehaucht hat.
Beispiellose Trauer nach seinem frühen Tod
Aber das war nicht der einzige Grund für die beispiellose Trauer nach seinem frühen Tod. Rabbiner Kaplan war ein Mann, der den Erfolg der Mussar-Bewegung verkörperte und als persönliches Beispiel dafür diente, zu welchem Maß an Hingabe an G’tt, Middot (guten Eigenschaften) und Nächstenliebe ein Mensch fähig ist.
Anlässlich des 100. Todestags von Rabbiner Kaplan besuchte vor wenigen Wochen auch das heutige Berliner Rabbinerseminar sein Grab. Denn das legendäre Hildesheimer’sche Seminar ist vor 15 Jahren wieder zu neuem Leben erwacht: Die Rabbinerausbildung im Skoblo Education Center an der Synagoge Brunnenstraße versteht sich als seine Nachfolgeinstitution.
Und so wurde auch die Jahrzeit des ehemaligen Rektors in Berlin groß begangen. Nach einem gemeinsamen Gebet am Grab in Weißensee referierten Rabbiner Moshe Mordechai Farbstein, Oberhaupt des Rabbinerseminars, Rabbiner Kaplans Enkel, Rabbiner Chaim Avraham Eliyahu, und Meir Hildesheimer per Zoom aus Israel über das Leben und Vermächtnis von Rabbiner Avraham Eliyahu Kaplan.
Der Autor ist Assistenz-Rabbiner der Gemeinde Kahal Adass Jisroel und Dozent am Rabbinerseminar zu Berlin.