Die erste Seite der Tora und die erste Seite des Talmuds miteinander zu vergleichen, kann uns helfen, die Philosophie des Judentums besser zu verstehen. Am Anfang der Tora erschafft G’tt das Licht, die Zeit und den Raum sowie alle Tiere und Lebewesen.
»G’tt sah, dass es gut war.« Nach all den Planeten und Lebewesen erreicht der Schöpfungsbericht im 1. Buch Mose 1 sein Finale mit der Erschaffung des Menschen, dem Sinn der Schöpfung, der einzigen Schöpfung, über die es heißt: »G’tt sah, dass es sehr (hebräisch meʼod) gut war.« Im Wort meʼod steckt eine Anspielung auf den Menschen, denn das Wort meʼod besteht aus denselben Buchstaben wie das hebräische Wort für »Mensch« – Adam.
SCHMA Die erste Seite des Talmuds sieht anders aus: Es werden drei Meinungen von verschiedenen Rabbinen dargestellt, bis zu welchem Zeitpunkt man das Glaubensbekenntnis Schma Jisrael (5. Buch Mose 6,4) am Abend sagen darf, um das Gebot erfüllt zu haben. Zum Hintergrund: Die Tora gebietet uns, das Schma Jisrael täglich zu sprechen, und zwar, »wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst« (5. Buch Mose 6,7).
Die Rabbinen versuchen, den Zeitpunkt des »Niederlegens« zu bestimmen. Die erste Meinung sagt, dass das erste Drittel der Nacht als die Zeit des Niederlegens gilt. Die zweite Meinung sieht die halbe Nacht als Zeit des Niederlegens, die dritte Meinung sieht die gesamte Nacht gemeint.
Die beiden Textabschnitte sind sehr unterschiedlich. Der Kontrast zwischen dem Text und der Sprache der (schriftlichen) Tora und dem Text des Talmuds, der als mündliche Tora gilt, ist extrem. Auf der einen Seite wird von der Schöpfung des allmächtigen G’ttes berichtet, von der Entstehung von allem, und auf der anderen Seite (der talmudischen) wird von einer Meinungsverschiedenheit zwischen Männern in einer Rechtsfrage berichtet.
parallelen Nichtsdestotrotz weist der israelische Philosoph Micha Gudman auf interessante Parallelen hin. Die erste Seite der Tora erzählt von der Erschaffung der Zeit. Die erste Seite des Talmuds erzählt von der Definition der Zeit. Aus der Tora wissen wir, dass G’tt den Abend erschaffen hat, aus dem Talmud wissen wir, welche Zeit als genaue Zeit des Abends für relevante halachische Fragen bezeichnet werden kann.
Eine weitere Parallele ist, dass die gesamte Schöpfungsgeschichte von Gʼtt erzählt wird. Am Ende der Erzählung steht der Mensch als Krone der Schöpfung. Der erste Abschnitt im Talmud erzählt vom Menschen, um am Ende das Glaubensbekenntnis zur korrekten Zeit zu sagen und dadurch G’tt zu unserem König zu krönen. Mit anderen Worten, der Talmud kann als eine Bewegung des Menschen zu G’tt und die Tora als eine Bewegung G’ttes zum Menschen verstanden werden.
Die Einheit von mündlicher und schriftlicher Tora wird in einer Vielzahl rabbinischer Überlieferungen dargestellt. Aus Sicht des Rambam lernen wir das Gebot des Torastudiums aus folgendem Vers: »Du sollst sie (die Worte der Tora) deinen Kindern einschärfen und über sie (bam) reden« (5. Buch Mose 6,7). Das Wort »bam«, das in diesem Kontext als »über sie« übersetzt werden kann, besteht aus zwei Buchstaben: Bet und Mem. Bet ist der erste Buchstabe der Tora, die mit dem Wort »Bereschit« (im Anfang) beginnt. Mem ist der erste Buchstabe des Talmuds, der mit dem Wort »Me’eimatai« (ab wann?) beginnt. Eine Anspielung darauf, dass sich das Gebot des Torastudiums auf beide Teile der Tora bezieht.
Überlieferung Laut einer anderen Überlieferung sind die beiden letzten Verse im 4. Buch Mose, Kapitel 10 (»Haschem steh auf« et cetera) ein eigenes Buch. Alles im 4. Buch Mose bis zu diesen Versen gilt auch als eigenes Buch, und alles im 4. Buch Mose nach diesen Versen gilt ebenfalls als eigenes Buch (Schabbat 116a).
Dementsprechend hätten wir sieben Bücher der Tora (statt fünf). Der Talmud besteht aus sechs Teilen, genannt Sedarim. Dementsprechend bestehen die beiden Teile der Tora gemeinsam aus 13 Teilen. 13 ist der Zahlenwert des Wortes »Echad« – Einheit!